Die Berliner Wahllokale waren gerade mal eine Stunde geschlossen, Trends noch nicht erkennbar, da wurde FDP-Chef Christian Lindner ungewöhnlich deutlich – und ehrlich. „Die FDP leidet in besonderer Weise darunter, daß wir einer sehr unbeliebten Regierung angehören. Und wir machen es uns als Koalition ja auch schwer“, räumte der Bundesfinanzminister im ZDF unumwunden ein. Es fehle dem Bündnis an Berechenbarkeit, die spätestens bei der Erstellung des Haushaltsentwurfs 2025 wieder hergestellt sein müsse. „Darunter leiden alle“.
Auch die FDP-Klientel, die am nächsten Morgen bei den Liberalen für Katerstimmung sorgte. Die FDP verlor bei der Teilwiederholung der Bundestagswahl so stark an Stimmen, daß ihr als einziger Partei ein Mandat aberkannt wurde. Ersatzlos. Das liegt an der niedrigen Wahlbeteiligung von 51 Prozent in den 455 (von 2.256) Wahlbezirken. Bei der Hauptwahl im September 2021 lag sie noch bei 75,4 Prozent. Damals waren zu viele Pannen passiert, so daß das Bundesverfassungsgericht eine teilweise Wiederholung angeordnet hatte. Der Bundestag hat damit nur noch 735 Parlamentarier.
Mißt man die Ergebnisse vom Sonntag mit denen der Hauptwahl, ergeben sich bei den Parteien nur leichte Verschiebungen. Zwischen Verlusten von 1,2 Prozent- (SPD) und Gewinnen von 1,3 Prozentpunkten (CDU). Kein Grund zur Aufregung also?
Wohl kaum, denn entscheidend für die Analyse ist der Blick auf die Bezirke, in denen die rund 550.500 Wähler, etwa ein Fünftel aller Berliner Wahlberechtigten, tatsächlich abgestimmt haben. Hier sind die Ausschläge deutlich. Da steht an der Spitze der Verlierer die SPD mit einem Minus von 7,8 Prozentpunkten, gefolgt von der FDP mit 5,8 Prozentpunkten. Die Linke kann sich nach den Dauerquerelen um ihr einstiges Mitglied Wagenknecht über ein unerwartetes Plus (0,7 Prozentpunkte) freuen, die Grünen werden als einzige Ampel-Partei nicht für diese „unbeliebte Regierung“ (Lindner) in Haftung genommen (+0,5 Prozent). Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner konnte angesichts des CDU-Zugewinns von 6,9 Prozent vor Kraft kaum laufen, lobte sich selbst und forderte Neuwahlen im Bund. Ein Fall von Gratismut. Daß Berlin vier Abgeordnete verliert (siehe Kasten) und damit der Einfluß der Hauptstadt auf die Bundespolitik sinkt; geschenkt. Und die AfD? Mit einem Plus von 5,6 Prozentpunkten hatten wohl die wenigsten gerechnet angesichts der Anti-Rechts-Demonstrationen im Wochentakt. Abgeräumt hat für die Partei deren Abgeordneter Götz Frömming, der im Ost-Bezirk Pankow in einigen Stimmkreisen bis zu 37 Prozent der Erststimmen holte.
So ergab die Teilwiederholung der Mini-Bundestagswahl bei den Zweitstimmen nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis im Vergleich zu 2021 folgendes Bild: Grüne 27,7, CDU 20,6, SPD 14,6, AfD und Linke jeweils 12,6, FDP nur noch 3,3 Prozent. Bitter für die FDP: Die AfD zog in der Rangfolge an den Liberalen vorbei. Obwohl nur etwa ein Prozent der Gesamtbevölkerung an die Urnen gerufen worden waren, löste das Ergebnis Hilflosigkeit, Unruhe, Warnungen und Zufriedenheit im Berliner Regierungsviertel aus. Die Abgeordnete Beatrix von Storch verwies darauf, daß die AfD als einzige Partei auch absolut Wähler hinzugewonnen hat.
„Das beste Mittel gegen die AfD ist gute Politik“, so die Erkenntnis des Regierenden Bürgermeisters. Dessen Amtsvorgängerin Franziska Giffey freute sich, daß die SPD weiter stärkste Kraft ist. „Eine gute Nachricht“. Immerhin: „Nicht jeder, der auf Mißstände hinweist, gehört in die rechte Ecke“, meinte die Wirtschaftssenatorin. Daß es in der SPD-Bundestagsfraktion angesichts schlechter Wahl- und Umfrageergebnisse rumort, ist längst kein Geheimnis mehr.
Im Sommer schlägt die Stunde der Wahrheit
Denn die „Fortschrittskoalition“ droht zu zerbröseln. Der Umgangston ist rauher geworden, die inhaltlichen Differenzen zwischen FDP und Grünen scheinen unüberbrückbar. Zuletzt ging es beim Lieferkettengesetz hoch her. Der FDP ist das EU-Vorhaben zu bürokratisch, den Grünen liegt daran, daß Unternehmen international auf die Einhaltung der Menschenrechte achten. Das Gesetz steht im EU-Parlament auf der Kippe. „Gigantischer Schaden“, empören sich die Grünen. FDP-Vize Wolfgang Kubicki keilte zurück. „Mir schwillt der Kamm, wenn die Grünen zum wiederholten Male öffentlich Halb- oder Unwahrheiten verbreiten“. Ungeniert geben FDP-Politiker zum Besten, mit den Grünen nicht ein weiteres Mal koalieren zu wollen.
Längst ist von einem „Kurswechsel“ die Rede. Das Meinungsforschungsinstitut Insa sieht die Liberalen im Bund nur noch bei 3,5 Prozent. Ein Alarmzeichen eineinhalb Jahre vor der nächsten Wahl. Die schwierige wirtschaftliche Lage in Deutschland, die deutliche Kritik von Verbänden an der Ampel sorgen für zusätzliche Nervosität. Lindner und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) halten Deutschland für „nicht mehr ausreichend wettbewerbsfähig“. Übereinstimmung in der Analyse, aber Uneinigkeit bei der Problemlösung. Während Habeck ein Sondervermögen, also weitere Schulden, fordert, spricht sich Lindner für Steuersenkungen aus. Die FDP ist in der Zwickmühle. Einerseits der Vorwurf der Blockade in der Koalition, andererseits der Vorwurf, den Grünen nicht genug zu widersprechen. Und Olaf Scholz? Der Kanzler schweigt. Sein Amtsminister Wolfgang Schmidt sieht den Regierungschef in der Rolle eines „Paartherapeuten“ in einer Familie mit Kindern. „Zwei sind immer okay, aber bei dreien ist die Gefahr relativ groß, daß am Ende sehr viel Geschrei aus dem Kinderzimmer kommt.“ Einer fühle sich immer ausgeschlossen. Die Ampel als Kinderzimmer.
Anders dagegen Lindner. „Die Lage ist ernst“. Die Stunde der Wahrheit dürfte im Sommer schlagen. Dann einigen sich Koalitionen üblicherweise auf den Haushaltsentwurf des nächsten Jahres. Bis dahin soll zudem ein gemeinsames Konzept für den Standort Deutschland ausgearbeitet werden.
Stühlerücken im Plenum
Während es bei den Direktmandaten keine Veränderungen gibt, bedeutet die Nachwahl in Berlin für vier Berliner Bundestagsabgeordnete, die über die Liste eingezogen oder nachgerückt waren, den Abschied aus dem Parlament. Wegen der gesunkenen Wahlbeteiligung stehen der Hauptstadt insgesamt weniger Mandate zu. Betroffen sind die Landesvorsitzende der Grünen, Nina Stahr, die SPD-Abgeordnete Ana-Maria Trasnea, die erst im Mai vergangenen Jahres für die jetzige Berliner Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe in den Bundestag nachgerückt war, der Linken-Abgeordnete Pascal Meiser und Berlins FDP-Generalsekretär Lars Lindemann. Der Liberale ist das einzige Mitglied des Bundestags, dessen Mandat ersatzlos wegfällt; die FDP hat nun nur noch 91 Sitze, der Bundestag insgesamt auch einen weniger (735). Im Fall der übrigen Ausgeschiedenen fällt ihr Mandat an einen anderen Landesverband derselben Partei. Für die Grünen wird Franziska Krumwiede-Steiner aus Nordrhein-Westfalen einziehen. Das SPD-Mandat fällt voraussichtlich an Angela Hohmann aus Niedersachsen. Bei der Linkspartei wäre die frühere Bundestagsabgeordnete Christine Buchholz aus Hessen am Zug, die jedoch schon am Montag abwinkte. Da die Linke ihrer Rolle als „Antikriegspartei“ derzeit nicht gerecht werde, würde sie bei Annahme des Mandats „in einen ständigen Konflikt mit der Linie der Parteispitze und der Gruppe der Linken im Bundestag“ geraten, teilte die 52jährige mit. An ihrer Stelle wird dann Jörg Cezanne einziehen, der bereits von 2017 bis 2021 MdB war. (vo)