© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/24 / 16. Februar 2024

„Der Journalismus wird zerquetscht“
Interview: Kaum einer kritisiert die Selbstauslieferung von Medien und Wissenschaft an Politik, Ideologie und Macht so profunde wie Michael Meyen. Nun ist der Münchner Kommunikationswissenschaftler und Bestsellerautor jedoch selbst in ihr Visier geraten
Moritz Schwarz

Herr Professor Meyen, wie lautet Ihr Fazit der Debatte um das Potsdamer „Geheimtreffen“ und die AfD? 

Michael Meyen: Es gab keine echte Debatte. Zu sehen und zu hören waren und sind vor allem Menschen, die das Narrativ bedienen, das „Correctiv“ vorgegeben hat – frei nach dem Motto: Wir stehen kurz vor einem neuen 1933, wenn wir nicht endlich etwas gegen diese Partei tun und gegen alle, die irgend etwas mit ihr zu tun haben.  

Erkennen Sie dabei Strukturen, die Sie aus Ihrer Forschung kennen? 

Meyen: Die Kommunikationswissenschaft spricht von mediatisierten Ereignissen: Dinge, die nur stattfinden, damit darüber berichtet wird. Wer Geld und das entsprechende Personal hat, kann so andere Themen aus der Öffentlichkeit verdrängen und seine eigene Sicht plazieren. 

Glaubt „Correctiv“ nicht wirklich der Nazismus kehrt zurück, und wollte nicht nur anderes „verdrängen“?

Meyen: „Correctiv“ ist ja nur das ausführende Organ. Ich weiß nicht, woran die Leute dort glauben. Vermutlich denken sie in der Tat, für das Gute zu streiten und Bollwerk gegen alles zu sein, was dem entgegensteht. Man muß sich dafür ja nur die „Faktenchecks“ auf der „Correctiv“-Seite anschauen. Dort geht es immer um Dinge, die der Regierungssicht widersprechen und das Zeug haben, viele Menschen zu erreichen. Bei der Potsdam-Geschichte genügt ein Blick auf den Zeitverzug: Journalismus lebt ja von der Aktualität, doch bei dem „Geheimtreffen“ handelt es sich um ein Ereignis aus dem November, das just aus dem Hut gezaubert wurde, als die Proteste gegen die Ampel in aller Munde waren.

Das ist in der Tat seltsam, wird aber von den Medien bis heute so gut wie nicht hinterfragt. Warum nicht? 

Meyen: Es hat einfach gepaßt. Der Berufsstand diskutiert schon eine Weile, ob es nicht an der Zeit ist, die Maske der Objektivität und Neutralität fallen zu lassen. Erst ging es um die AfD, um Klima, um Corona oder um den Krieg. Immer schien die Welt am Abgrund zu stehen – zu retten nur von einem Journalismus, der Partei ergreift. Jetzt geht es einen Schritt weiter, jetzt geht es um das große Ganze: „Unsere Demokratie“, bedroht von rechts! Das steht so schon in der ersten Regierungserklärung von Olaf Scholz am 15. Dezember 2021. 

In Ihrem Buch „Wir haben freier gelebt“ belegen Sie am Beispiel der DDR-Geschichtsschreibung einen „Sieg der Ideologien über die Realität“. Ist es vielleicht das, womit wir es auch hier zu tun haben?

Meyen: Das hängt davon ab, wie Sie Ideologie definieren. Bei mir ist das mit Václav Havel die „Machtinterpretation der Wirklichkeit“. Wie sieht die Realität „von oben“ aus? Die Antwort finden Sie jeden Abend in der „Tagesschau“ oder morgens in der Süddeutschen Zeitung. Havel zeigt, daß jede Machtstruktur ein Kommunikationsinstrument braucht, um nicht zu zerbrechen – und daß sich ihre Interpretation dabei zwangsläufig von der Wirklichkeit entfernt. Sein Beispiel ist ein Prager Gemüsehändler, der eine Losung aufhängt: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ Dem Händler waren die Proletarier völlig egal. Er wollte nur zeigen, daß er mitmacht und sich unterwirft. Heute tragen die Leute Masken, haben Flugscham oder demonstrieren gegen Rechts. Aus diesem Ideologiegefängnis können auch Journalisten kaum ausbrechen. Sonst droht ihnen der Pranger.

Aber in Deutschland herrscht doch Meinungsfreiheit!  

Meyen: Sie können ja versuchen, in staatlich finanzierten oder alimentierten Arenen etwas gegen die Klimaideologie zu sagen, gegen das Gendern, gegen Massenmigration, das Corona-Narrativ oder die Gefahr „von rechts“. Entweder schlägt dann die Zensur zu oder das, was verniedlichend Cancel Culture genannt wird. Der Staat macht sich heute nicht mehr selbst die Hände schmutzig. Er erläßt Gesetze wie das NetzDG oder jüngst den Digital Services Act der EU und schaut zu, wie die Digitalkonzerne zu Zensurmaschinen mutieren, die alles löschen, was nicht ins Narrativ paßt. Und er bezahlt ein ganzes Heer an Akademikern, die in NGOs, Universitäten oder als Beauftragte für irgend etwas darüber wachen, daß die Deutungshoheit nicht verlorengeht. „Correctiv“ ist nur die Vorhut dieser Internetpolizei. 

Wenn jede Gesellschaft eine Ideologie produziert, gibt es dann eigentlich einen Unterschied zwischen demokratischen und autoritären/totalitären Staaten? 

Meyen: Wenn Sie damit den DDR-Sozialismus meinen: Dort wußte jeder, wem die Medien gehören und wem sie dienen. Diktatur des Proletariats mit einer Partei an der Spitze. Vom Journalismus hat dort niemand erwartet, daß er die Macht kritisiert oder kontrolliert. Die Ideologie der „Vierten Gewalt“ ist eine Nebelkerze, die verschleiern soll, wie eng die großen Redaktionen in den Machtapparat eingebunden sind. Man muß sich ja nur die Besitzverhältnisse in den Verlagen anschauen oder die Konstruktion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks: Hier ein paar ultrareiche Familien und dort Politiker, die jene beaufsichtigen, die angeblich ihre Gegenspieler sein sollen. Die „Vierte Gewalt“ liegt mit den anderen Gewalten unter einer Decke.

In welchem Zustand sind also unsere Medien? 

Meyen: Der Journalismus wird gerade wie in einem Sandwich zerquetscht zwischen Regierungspropaganda und Plattformzensur. Ministerien, Behörden und Parteien rüsten ihre PR-Apparate immer weiter hoch, während die Redaktionen schrumpfen und zudem gezwungen sind, sich der Digitallogik zu unterwerfen, wenn sie das Publikum erreichen wollen. Das macht aus den Leitmedien Regierungssprachrohre, die moralisieren und damit spalten müssen, weil die Plattformen genau das belohnen: Klare Kante zeigen, in den Himmel loben oder verdammen. Der Binärcode kennt nur Null und Eins. Dafür oder dagegen und nichts dazwischen! Eine Plattform wie X, vormals Twitter, ist ein Tummelplatz, auf dem sich Politik, Behörden und Medien beobachten. Dort finden die Redaktionen Themen und Moral. Daß es dabei keine großen Unterscheide zwischen Privaten und Gebührenrundfunk gibt, zeigt eine Studie, die die Uni Mainz und die Mercator-Stiftung gerade veröffentlicht haben. Überall dominiert die Sicht von Regierung und Apparat.

Was ist die Ursache für diese Homogenisierung? 

Meyen: Das Internet. Früher war es einfach, andere Sichten auf die Wirklichkeit zu marginalisieren. Man hat ihnen entweder gar keinen Platz in den Leitmedien gegeben oder sie nur solange zu Wort kommen lassen, bis es bedrohlich wurde. Heute konkurriert die Machtinterpretation der Wirklichkeit buchstäblich vor aller Augen mit Sichtweisen, die mindestens genauso gut belegt und oft nicht weniger plausibel sind. Auch die Leitmedien stehen permanent unter Feuer. Das hat eine Wagenburg produziert, in der sich Entscheider und Journalisten verschanzen und gegenseitig stützen. 

Sie könnten doch den Unmut im Netz und Volk aufnehmen und damit Publikum und Gewinn vergrößern. 

Meyen: Reichweitenmaximierung war gestern. Bis in die frühen 2010er Jahre haben die Leitmedien gut von Werbung und Abos gelebt. Heute schielen Verlagschefs genau wie andere Großunternehmer auf die Kassen des Subventionsstaates. Seit Corona wissen sie, daß das kein Tabu mehr ist. Im Sommer 2020 gab es vom Bund einen Nachtragshaushalt von 220 Millionen Euro. Eine Belohnung für mediales Wohlverhalten unter dem Deckmantel „digitale Transformation“. Zwar ist das Geld dann nicht ausgezahlt worden, aber die Verlage baggern weiter. Im Moment geht es um „Zustellhilfen“ für Zeitungsverlage, die die Ampel im Koalitionsvertrag versprochen hat. Die werden spätestens 2025 kommen, weil auch die CDU dafür ist. Niemand beißt die Hand, die mit Millionen lockt. 

Warum reflektieren die Medien das nicht selbstkritisch, denn eigentlich gehört das zu ihrem Berufsethos? 

Meyen: Die Redaktionen sind inzwischen sehr homogen. Man muß sich heute leisten können, sein Kind in den Journalismus zu schicken, denn der Weg ist lang und teuer. Deshalb dominieren dort Mittelschichtkinder, die weiter nach oben wollen und schon deshalb alle bewundern, die das schon geschafft haben. Die Herkunft prägt außerdem den Blick auf die Wirklichkeit. Großstadtakademiker haben wenig Zugang zum Leben und zu den Problemen von Menschen, die ihr Geld mit den Händen verdienen oder auf dem Land wohnen.

Sie sind mit dieser Entwicklung in Journalismus und öffentlicher Debatte selbst in Konflikt geraten. Warum?

Meyen: Medienkritik ist kein Nischenthema mehr. Seit Pegida geht es auf vielen Demos auch um den Journalismus. In manchen Bundesländern verweigert jeder zehnte Haushalt den Rundfunkbeitrag, Tendenz steigend. Wenn ein Universitätsprofessor das mit Theorie und Empirie unterfüttert, den Kritikern also Argumente liefert und sie mit seiner Reputation legitimiert, dann wirkt das offenbar bedrohlich. Vor zehn Jahren kamen vielleicht zehn Interessierte, wenn ich zu dieser Problematik eine Veranstaltung gemacht habe, heute ist dagegen der Saal voll. Und bekämpft wird ja nur das, was Reichweite hat.

Die „Zeit“ etwa fragt, warum einer wie Sie „immer noch lehren darf“. Die „Süddeutsche Zeitung“ will zwar nicht Ihren Rauswurf, hält aber den Einsatz des Verfassungsschutzes gegen Sie für gerechtfertigt.  

Meyen: Diese Texte sprechen für sich. Es steht jedem frei, meine Bücher zu lesen oder zu Vorträgen zu kommen und sich dort selbst ein Urteil zu bilden. Meine Erfahrung: Journalisten, die einen Beitrag über mich verfassen, wissen vorher, was sie schreiben wollen, und fragen nur pro forma, wie ich die Dinge sehe. Es lohnt sich deshalb gar nicht zu antworten. 

Aber ist ein Abbruch der Debatte nicht Kapitulation?

Meyen: Nein, man würde nur Zitate liefern und dem Journalisten helfen, sich selbst und seine Leser zu beruhigen: Wir haben die andere Seite doch gehört. Tatsächlich aber gibt es weder Offenheit noch Neugier. Ein „Fall“ wie meiner dient nur dazu, das herrschende Narrativ zu stärken und den Raum des öffentlich Sagbaren abzustecken. Seht her: Das passiert, wenn einer ausschert!

Beide Artikel sind denunziatorisch, aber auch typischer Journalismus: Schließlich gibt es kaum ein Medium, das nicht schon gefordert hat, jemanden zu entlassen. 

Meyen: Mag sein, daß das heute für den Journalismus typisch ist. Über die Gründe haben wir gesprochen. Ich halte mich da eher an Rudolf Augstein: Sagen, was ist. Der Journalismus hat einen öffentlichen Auftrag. Er muß über alle Themen informieren, die in der Gesellschaft als relevant betrachtet werden, und alle Perspektiven liefern, möglichst ohne Wertung, damit wir uns selbst eine Meinung bilden können. Der Kommentar ist da allenfalls eine nette Zugabe. Für die Meinungs- und Willensbildung brauchen wir Informationen und kein betreutes Denken. Im Grunde ist es traurig, wenn ein Journalist glaubt, Ministern, Unternehmern oder Wissenschaftlern sagen zu müssen, was sie zu tun haben. Auch hier gilt: Schuster, bleib bei deinen Leisten. Berichte, stelle Öffentlichkeit her. Alles andere findet sich dann.

Spielen wir das im Fall AfD durch: Wie könnte man klären, was sie tatsächlich, jenseits aller Meinungen, ist? 

Meyen: Das Programm lesen und schauen, was die Partei tut, in den Parlamenten zum Beispiel, in kleinen Anfragen, Reden, mit Veranstaltungen. Ich war deshalb im November beim 2. Corona-Symposium der AfD-Bundestagsfraktion. Auch Bücher helfen. Es ist ja kein Zufall, daß Martin Sellners Buch über Remigration inzwischen vor der Veröffentlichung Anfang März per Vorbestellung ein Bestseller ist. Die Leute gehen zu den Quellen, weil sie dem Vermittler ein Zerrbild unterstellen. Sie könnten sich diesen Aufwand sparen, wenn der Journalismus seinen Job machen und das Pro und Contra rund um diese Partei unvoreingenommen nebeneinanderstellen würde. 

Ihre Kritik reicht über den Journalismus hinaus, in Ihrem neuen Buch „Wie ich meine Uni verlor. Bilanz eines Ostdeutschen“ (siehe Seite 21), nennen Sie die Wissenschaft „die Religion der Gegenwart“, denn um etwas durchzusetzen, brauche man „Priester mit Professorentitel, Studien, Akademien, Ethikräte. Ohne die Weihen von Gelehrten keine Absolution“. 

Meyen: Im Internetzeitalter braucht der Leitmedienjournalismus die Wissenschaft als Stütze, weil sie „Wahrheit“ verspricht. Der Staat hat die Universitäten auch zuvor finanziert und dafür gesorgt, daß bestimmte Positionen ausgeschlossen werden, über den Radikalenerlaß von 1972 zum Beispiel. Wer aber einmal Professor war, konnte die Inhalte weitgehend selbst bestimmen. Heute dagegen geben EU, Bund, Länder, Parteien und Konzernstiftungen die Themen vor, an denen gearbeitet wird. Das Anreizsystem wurde so verändert, daß man sich dem nur schwer entziehen kann. Ohne Drittmittel gibt es weniger Geld und ohne Publikationen im Web of Science, das vom Medienkonzern Thomson Reuters auf den Weg gebracht wurde, weniger Reputation bei den Kollegen. Das wirkt sich schon auf die Nachwuchsauslese aus. Wer heute in die Wissenschaft will, muß die Themen und die Codes des Digitalkonzernstaats bedienen.

Begonnen haben Sie Ihre Karriere in der DDR. Das irritiert, da Journalismus dort doch Propaganda war.

Meyen: Die DDR war ein PR-Staat. Selbst Erich Honecker hat ja einen großen Teil seiner Zeit in Medienarbeit investiert. Was schreibt die Parteipresse auf Seite 1, was bringt die „Aktuelle Kamera“ heute abend? Für Honecker war das wichtig, weil er wußte, daß sich die andere Sicht nicht unterdrücken läßt. Die Leute konnten ja jederzeit umschalten. Deshalb hat das DDR-Fernsehen in der Prime Time das gebracht, was Quote bringt. Shows, Spitzensport, Filme, oft auch aus dem Westen. Deshalb war auch die Journalistenausbildung gut. Ich habe in Leipzig das Handwerk gelernt, das nötig ist, wenn man nicht an den Menschen vorbeischreiben will. Und ich habe Sensoren entwickelt, die anschlagen, wenn der Journalismus zum Instrument wird.






Prof. Dr. Michael Meyen, lehrt Kommunikationswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität. Geboren 1967 in Bergen auf Rügen, studierte er von 1988 bis 1992 Journalistik in Leipzig, wo Meyen ab 1995 auch lehrte, bevor er 2000 an die Universität Halle und 2002 nach München wechselte. 2021 erschien sein Bestseller „Die Propaganda-Matrix. Der Kampf für freie Medien entscheidet über unsere Zukunft“ und Ende 2023 sein neues Buch „Wie ich meine Uni verlor. Dreißig Jahre Bildungskrieg – Bilanz eines Ostdeutschen“.