Reitschuster. Boris Reitschuster führt ein umtriebiges Leben. Von 1999 bis 2015 leitete er das Moskauer Büro des Focus und schrieb schon damals Kritisches zu Putin. Zwei Journalistenpreise sowie eine Theodor-Heuss-Medaille für seinen „hohen persönlichen Einsatz für die Meinungs- und Versammlungsfreiheit und damit für die Wahrung von Bürger- und Menschenrechten“ in Rußland stehen in seiner Vitrine. Dann kam Corona. Immer wieder berichtete Reitschuster auf seinem privaten Blog „reitschuster.de“ sowie auf seinem Youtube-Kanal kritisch über die Pandemiepolitik der Bundesregierung. Bei der Bundespressekonferenz (BPK) hakte er da nach, wo viele Journalisten-Kollegen schwiegen. Ende 2021 schloß ihn die BPK aus. Reitschuster selbst spricht von einem „Arbeitsverbot“, die BPK argumentiert mit Satzungsfragen. Weil Reitschuster schon im Sommer 2021 seinen Wohnort von Berlin nach Montenegro verlagert habe, dürfe er nicht mehr teilnehmen. Ob das – wie Reitschuster in seinem Buch „Meine Vertreibung“ schildert – eine weitere Schikane unter vielen ist, wie etwa die zwischenzeitliche Sperrung seines Youtube-Kanals, klingt zumindest nicht unplausibel. In jedem Fall liefert die Lektüre spannende Einblicke in die Abgründe der Journalismus-Branche. (st)
Boris Reitschuster: Meine Vertreibung. Achgut Edition, Berlin 2023, broschiert, 216 Seiten, 22 Euro
Lorenz. Ein halbes Dutzend Mal betont Ilona Jerger in ihrem biographischen Roman über Konrad Lorenz, daß der Mitbegründer der Verhaltensforschung 1940 an die Albertus-Universität in Königsberg berufen worden sei – „auf den Lehrstuhl Immanuel Kants“. Solche Fehlinformationen kommen dabei heraus, wenn eine Journalistin, die lange Chefredakteurin der Zeitschrift Natur war, bevor sie als Sachbuchautorin reüssierte, Wissenschaftsgeschichte mit starrem Blick auf die Spiegel-Bestenliste „populär“ aufbereitet. Dann mischen sich Fakten und Fiktionen, tritt die „Einfühlung“ in den immerfort plump vertraulich „Konrad“ genannten Gelehrten an die Stelle der empirisch belegbaren Tatsachen seiner akademischen Karriere in der NS-Zeit. Gab deren phantasiereiche Rekonstruktion schon reichlich Stoff, den „Darwin des 20. Jahrhunderts“ Richtung Rassenideologie zu rücken, läuft die von der Vergangenheitsbewältigung berauschte Autorin zur Höchstform auf, wenn sie Lorenz auf den Philosophen Martin Heidegger und den Lyriker Paul Celan treffen läßt, um endlich zum Thema Auschwitz zu kommen. Von einem Roman zu Konrad Lorenz darf man halt nicht mehr Niveau erwarten. (wm)
Ilona Jerger: Lorenz. Roman. Piper Verlag, München 2023, gebunden, 336 Seiten, 24 Euro