© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/24 / 09. Februar 2024

Das eigene Ich als Instanz
Serie Bewegende Köpfe, Teil 6: Der Anarchist Erich Mühsam, die herrschaftsfreie Gesellschaft und sein Ende im frühen NS-Terror
Rainer F. Schmidt

Die Männer, welche Wert auf Weiber legen, tun dies meist der Leiber wegen.“ Mit solch schlüpfrigen Schüttelreimen trug er sich in die Aphorismensammlungen ein. Er wußte, wovon er sprach. Zeitlebens ließ er seinen ausschweifenden sexuellen Begierden, wenn er nicht gerade in Haft saß, freien Lauf. Nicht einmal eine persistente Tripperinfektion konnte ihn davon abhalten, wie er in seinen Tagebüchern bekannte, die nicht durchwegs zitierfähig sind: „Der elende Tripper!“, so notierte er am 7. Mai 1911, „ununterbrochen macht er sich bemerkbar, stört mich in meinen Absichten, lähmt meine Aktionen, vergiftet meine Laune. Nun laboriere ich seit drei Wochen daran, und noch merke ich fast gar keine Besserung. (...) Gestern abend war es wieder gräßlich. Emmy war im Café (…) Sie war sichtlich geil auf mich und bat mich, ich möchte sie heimbegleiten. (...) Wir waren beide sehr betrübt, daß wir nicht tun konnten, worauf wir beide brannten.“ Die Geschlechtskrankheit hatte er sich im Garten der Lüste geholt: auf dem Monte Verità, unweit von Ascona hoch über dem Lago Maggiore. Dort hatten Anhänger der Freikörperkultur auf einem verlassenen Weinberg um die Jahrhundertwende eine Kommune für die freie Liebe gegründet. Sie war der Prototyp der Kommune 1, wie sie knapp siebzig Jahre später in West-Berlin ihre Neuauflage erleben sollte. Auf diesem Berg der Wahrheit, wo exilierte, linke Intellektuelle ein und aus gingen, formte sich sein politisches Weltbild. Bis dahin war der 1878 in Berlin geborene und in Lübeck aufgewachsene Apothekersohn zwar vehement antibürgerlich gewesen, eine echte politische Heimat, geschweige denn eine Aufgabe, hatte er nicht gefunden. Die Prügelerziehung seines pedantischen Vaters hatte ihn zum Rebellen gemacht. 1896 war er wegen „sozialistischer Umtriebe“ von der Schule relegiert worden; und eine Apothekerlehre hatte er abgebrochen. 

Jetzt war er auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, nach einer zündenden Botschaft, die ihm Richtung und Ziel geben konnte und nach einem Brandbeschleuniger für die verkrustete bürgerliche Gesellschaft. Der Kommunismus war ihm zu doktrinär, zu sehr auf Entmündigung des einzelnen ausgerichtet und zu elitär in der Verachtung der Bedürfnisse des Individuums. Die Sozialisten wiederum waren ihm zu opportunistisch, zu anbiederisch gegenüber der Obrigkeit und zu wenig aktionsbereit, wenn es galt, die hierarchischen Schranken der Gesellschaft einzureißen. Im alternativen, antiautoritären Siedlungsprojekt in den Tessiner Bergen fand er, wonach er suchte: das Modell einer herrschaftsfreien Gesellschaft, wie es die beiden Exilrussen Pjotr Alexejewitsch Kropotkin und Michail Bakunin predigten: den Anarchismus. 

Was ihn an dieser Lehre faszinierte, das war der kategorische Imperativ Kants, im kollektiven Maßstab zu Ende gedacht: die vollkommene Befreiung der Gesellschaft von Autorität und Zwang, von Gesetz und Staat. Der Mensch sollte sich selbst verwirklichen können und zur Perfektion gelangen, indem er nur dem eigenen Wollen folgte, indem es keine andere Instanz als das eigene Ich gab. Nur das Gewissen und die Vernunft sollten der individuellen Freiheit Grenzen setzen. Keine Autorität sollte den Menschen davon entlasten, selbst Entscheidungen zu fällen und Verantwortung zu übernehmen. „Anarchismus“, so hieß es in seinen Worten, „ist die Lehre von der Freiheit. Wo Ausbeutung ist, wo Macht ist, wo Autorität waltet, wo Zentralismus besteht, wo der Mensch den Menschen bewacht, wo befohlen und wo gehorcht wird, ist keine Freiheit.“  

Mit strubbeligem, pechschwarzem Haupthaar, das nie einen Kamm sah, mit seinen durchdringend stechenden Augen, die unter dicken Brillengläsern hervorfunkelten, mit erratisch-wildem Gestus und seinem zerzausten Bart, was seiner Figur das düstere Charisma eines byzantinischen Christus verlieh, wurde er zum Archetypus und zum Propheten dieser nonkonformistischen Lebenseinstellung. Seit 1909 trieb er sich in den Kneipen in München-Schwabing herum, wo er für die herrschaftsfreie Gesellschaft in seinen Agitationszirkeln für die Tat und den Anarchist Reklame machte. Aber auch ein Journal, das er unter den aufrüttelnden Titel vom Brudermord stellte: Kain. Zeitschrift für Menschlichkeit, blieb ohne jede Resonanz. 

Erst im Gefolge der Revolutionswirren, als alles drunter und drüber ging, fand er inmitten des politischen Vakuums und der emotionalen Heimatlosigkeit Widerhall. Allerdings nur für eine Woche, vom 7. bis zum 13. April 1919. Als Mitglied des Revolutionären Arbeiterrats der Räterepublik in München wurde er im „Palmsonntagsputsch“ von den regierungstreuen republikanischen Schutztruppen festgenommen und ins Zuchthaus Ebrach, zwischen Bamberg und Würzburg, verbracht. Von den 15 Jahren Festungshaft verbüßte er ein Drittel. Aber auch das konnte seinen missionarischen Furor nicht bremsen. In seiner anarchistischen Zeitschrift Fanal, die er seit 1926 in Berlin unter die Leute brachte, warnte er unermüdlich vor der drohenden Kriegsgefahr und vor Hitler, wobei ihn sein Untermieter, der junge Herbert Wehner, tatkräftig unterstützte. Trotz eines Verbots wegen „Verächtlichmachung der Reichsregierung“, brachte er kurz vor der „Machtergreifung“ noch ein Sonderheft heraus. Es firmierte unter dem Titel: „Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat“. Darin findet sich der Satz, der das vorwegnahm, was binnen weniger Wochen brutale Wirklichkeit werden sollte: „Wer nach Macht strebt, kann sein Ziel nur erreichen, indem er andere ohnmächtig macht.“ 

Die Nationalsozialisten wußten also genau, was sie taten, als sie ihn am 28. Februar 1933, unmittelbar nach dem Reichstagsbrand, verhafteten und ins Konzentrationslager Oranienburg verschleppten. Knapp eineinhalb Jahre später befahl ihm dort ein SS-Mann: „Bis morgen haben Sie sich aufzuhängen. (...) Wenn Sie diesen Befehl nicht ausführen, erledigen wir das selbst.“ Über das Ende in der Nacht zum 11. Juli 1934 berichtete seine Frau Kreszentia: „Der Sarg wurde geöffnet. Vor mir lag mein Mann. Das Gesicht war bleich, aber ganz, ganz ruhig. Ein Streifen am Hals zeigte mir die Spuren des Strickes. (...) Mein Schwager Hans sagte: ‘Entschuldige, mein Bruder, ich bin ein alter Arzt’, zog ihm das Hemd aus, der Rücken war vollkommen verprügelt, und getötet war er durch eine Giftinjektion und tot aufgehängt im Abort.“






Prof. Dr. Rainer F. Schmidt lehrte Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte am Institut für Geschichte der Universität Würzburg.