Seit etwa 20 Jahren kennzeichnet die Sicherheitslage in Westeuropa die anhaltende Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus. Die verheerendsten Anschläge erlebte Frankreich mit seiner großen arabischstämmigen Bevölkerung (Charlie Hebdo, Bataclan und andere Orte 2015, Nizza 2016, Straßburg 2018), in der sich fundamentalistische Parallelgesellschaften entwickeln konnten. Mehrfach wurde der Ausnahmezustand verhängt. Aber auch hierzulande hat sich nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz in Berlin 2016 (13 Tote) das öffentliche Leben verändert.
Selbst in kleinen Provinzstädtchen stehen bei Veranstaltungen unter freiem Himmel, Märkten oder Volksfesten Betonpoller und andere Hindernisse bereit, um Anschläge durch hineinstoßende Fahrzeuge zu erschweren. Bundesinnenministerin Nancy Faeser beruhigt anläßlich einer substantiierten Terrorwarnung für den Kölner Dom an Heiligabend 2023 die Öffentlichkeit: Man möge sich bitte keine Angst einjagen lassen, denn unsere Sicherheitsbehörden hätten die Lage im Griff. Im übrigen, so die unausgesprochene Botschaft, habe die generelle Bedrohung durch Terror nichts mit dem Islam zu tun.
In der Tat konnten nach dem Schock von 2016 zahlreiche Anschläge in Deutschland mit womöglich Hunderten von Toten und Schwerverletzten verhindert werden. Eine wesentliche Bedingung hierfür ist die in allen Bundesländern verbesserte polizeilich-geheimdienstliche Kontrolle von bekannten extremistischen Gruppen und die Überwachung sogenannter Gefährder. Die Kämpfe in Syrien und im Irak, die militärische Niederlage des Islamischen Staats und die Zerschlagung von Al-Qaida haben unter den Tausenden aus Europa in die Kampfgebiete ausgereisten Anhängern einen hohen Blutzoll gefordert. Manche Experten warnten, daß Heimkehrende radikalisiert und brutalisiert seien und ein hohes Sicherheitsrisiko darstellten.
Dies hat sich nicht bestätigt, denn die meisten radikalen „Foreign Fighters“ in den Kampfgebieten sind gefallen, tot oder gebrochen. Einige hundert männliche Rückkehrer (BRD-Bürger) befinden sich unter geheimdienstlicher oder justitieller Aufsicht, Frauen und Kinder zudem in betreuender Obhut spezialisierter sozialer Einrichtungen. Neben Personen aus dem Pool der Zugereisten (mit oder ohne Asylstatus) sind es immer wieder auch hier Geborene oder bereits länger Lebende, aus denen sich Gefährder und Täter rekrutieren. Wie ist es möglich, daß aus blassen frommen Jungen, gewöhnlichen Kriminellen oder auf andere Weise Gescheiterten beziehungsweise Unangepaßten todessüchtige Kämpfer für den Dschihad oder eben Mörder werden, die „Allahu Akbar“ rufen und zum Beispiel schwedische Fußballfans niederstechen, nachdem in Schweden ein Koran-Buch verbrannt wurde?
Nach dem Mord an dem Niederländer Pim Fortuyn (2002) und dem verheerenden Terroranschlag in London (2004) griff die besorgte EU-Kommission einen Zuruf aus niederländischen Geheimdienstkreisen auf, der diese Frage mit Hilfe eines neuen Schlagworts beantworten sollte: Radikalisierung! (Zur detaillierten Erörterung der Herkunft des Begriffs sei der Leser auf meinen Essay „Neues von der Radikalisierungsfront“ aus der Tumult-Ausgabe vom Winter 2023/24 verwiesen.)
Dieses Konzept sollte die Orientierung für das gesellschaftliche Bewußtsein verändern, da damit intrapsychische Vorgänge in den Fokus gerieten, die das weltweit hervortretende Gewaltpotential einer Religion unerheblich erscheinen ließ. Der Begriff „Radikalisierung“ ermöglichte gleichsam eine „Entislamisierung“ des Sprachgebrauchs über islamistisch motivierte Terroranschläge. Ein Wissenschaftler, der anderes in Erwägung ziehen wollte, erhielte keine Forschungsmittel, ein Publizist würde als „islamophob“ (also psychisch gestört) oder (rechter) Außenseiter ausgegrenzt.
Die aktuell dominierende Sozialwissenschaft, der bereits der bekannte Soziologe Friedrich Tenbruck, Nachfolger Dahrendorfs in Tübingen, zeitgeistbedingte „Wissenschaftsvergessenheit“ attestierte, ergriff bereitwillig den Zauberstab aus Brüssel und die damit verbundenen Zuwendungen. Seit etwa fünfzehn Jahren wird der „Mythos Radikalisierung“ (M. Logvinov) wissenschaftlich gepflegt, das heißt in zahllosen Klein- und Kleinststudien ausgefaltet, beschrieben und analysiert – sofern polizeilich gewonnene Daten nicht aus „sozialer Verantwortung“ der Innenressorts unter Verschluß bleiben.
Das Faszinosum des Radikalisierungsbegriffs ergab sich für Praxis und Forschung auch durch die gleichsam automatische Verbindung mit seinem Gegenbegriff. Erfahrungen im Strafvollzug wie im Alltagsleben legten nahe, daß Radikalisierungsprozesse wieder rückgängig gemacht oder zumindest auf eine sozial verträgliche Stufe zurückgeführt werden könnten. Die Strategien sozialintegrativer Maßnahmen, die bereits in der kriminalpräventiven Bewegung als ethisch gebotene Erfolgsgaranten galten, belebten sodann eine neue Welle von Projekten. Neben zahlreichen Diskussionsveranstaltungen, „Runden Tischen“ gegen Gewalt, Informationsbroschüren, Beratungsstellen und sogenannten „Awareness“-Kampagnen entstanden auch individuelle, gleichsam maßgeschneiderte Aktivitäten für Betroffene, die im Umfeld der Straffälligenhilfe und Randgruppenarbeit angesiedelt sind. Zumeist unterscheiden sie sich nicht substantiell von der vertrauten Praxis der sozialen Kriminalprävention.
In diesem Rahmen mögen sie auch durch das überzeugende Bekenntnis der Betreuer, daß die Gewaltphantasien oder Gewalthandlungen ihrer Schützlinge nichts mit dem Islam zu tun haben, subjektive Erleichterung bewirken und zur sozialen Anpassung beitragen. Man spricht in den als erfolgreich behaupteten Fällen allerdings seltener von einer Deradikalisierung, die man mangels Einblick in die inneren Vorgänge der Klienten nicht zuverlässig feststellen kann, sondern von beobachtbaren Parametern wie „disengagement“ (engl./frz.). Man verschmäht auch den militärischen Ausdruck „Demobilisierung“ nicht, wenn selbsternannte Dschihadisten ins zivile Leben zurückkehren. Die Betreuung wird (notgedrungen) zur „Distanzarbeit“ heruntergestuft.
Zuweilen entbehren die bunten Erfolgsgeschichten aus der staatlich mit Millionenbeträgen finanzierten Deradikalisierungsindustrie, zumeist in einem für normale Leser schwer verdaulichen Soziologen- und Genderdeutsch verschlüsselt, nicht des hintergründigen Humors. Eindrucksvoll handhabt Annika von Berg (Bundesamt für Migration, später Violence Prevention Network GmbH) diesen Stil, den sie in einer umfangreichen Abhandlung („Individuum und Gemeinschaft. Wie Identitäten und Gruppendynamiken Distanzierungsprozesse im islamistischen Extremismus beeinflussen“, Wiesbaden 2022) entfaltet. Für Ungeübte finden sich zahlreiche kaum lesbare Sätze wie diese Kapitelüberschrift: „Salafi-Jihadist*innen als revolutionärer Akteur*innen“ [sic!]. Sie sind weniger darauf ausgerichtet, eine Sache klar zu bezeichnen, als eine (die „richtige“) Gesinnung zu signalisieren.
In ihrem Werk breitet Annika von Berg, unterteilt in vier Idealtypen, die hochkomplexe „Distanzarbeit“ bei jungen Mohammedanern aus. Als Beispiel diene hier der „etwas härtere Fall“ eines verhinderten Selbstmordattentäters, den die gendersprachlich ausgewiesene Autorin mit einem rührend altbackenen Titel versieht: „Vom Anschlagsversuch zum braven Arbeiter“. Can, so wird der neue Meister aus Deutschland genannt, habe sich tatsächlich in erster Linie aus Liebeskummer radikalisiert und dem IS angeschlossen! „Sein Feindbild war vor allem Deutschland. Er empfand Haß, Wut und ein Bedürfnis nach Rache gegenüber dem deutschen Staat, weil er sich von diesem im Stich gelassen fühlte.“ In Syrien habe er allerdings keine (weiteren) Straftaten begangen, denn seine (eingestandene) Bereitschaft zu einem Selbstmord-attentat im Kampfgebiet kam nicht zur Ausführung.
Vielmehr sei er alsbald enttäuscht gewesen, weil er nicht die vier versprochenen Ehefrauen erhalten habe, sondern, vom IS als „unerfahrener Kämpfer“ eingestuft, nur eine Frau heiraten durfte. Des Wartens auf die Vervollständigung der Familiengründung überdrüssig, sei er nach Deutschland zurückgekehrt. Er wird zu einer unbedingten Freiheitsstrafe verurteilt. Der verhinderte Selbstmordattentäter findet dann im Gefängnis keinen Anschluß mehr an die frühere salafistische Szene.
Mit aufwendiger Rhetorik rekonstruiert die Autorin auf neun (!) terminologisch sorgfältig differenzierenden Stufen und mit flexiblem Hypothesenrepertoire die erfolgreiche Reise Cans „Vom Anschlagsversuch zum braven Arbeiter“. Nach 15 detailreichen Seiten faßt sie schließlich bündig das hoffnungsvoll stimmende Resultat zusammen: Cans und ähnlicher Mitgeschwister „Identifizierungsversuch als partiell distanzierte*r Extremist*in scheitert aufgrund eines multifaktoriellen Zusammenwirkens von Schlüsselereignissen, kognitiver Dissonanz und Gruppendynamiken der in- und out-group und führt in der Folge zu der vollständigen Demobilisierung und Deradikalisierung.“ Zuletzt stehe er sogar seiner Religion gleichgültig gegenüber!
Wir räumen ein, daß der kurze Aufenthalt in einem deutschen Knast und die intensive Zuwendung sensibler „Berater*innen“ (sicherlich doch: Beraterinnen) eine günstige Wirkung auf Can gehabt haben könnte. Zu hoffen ist, daß „der brave Arbeiter“ das Resümee seiner erfolgreichen Wiedereingliederung in die deutsche Gesellschaft niemals lesen wird, damit der Mildeeffekt nicht verpufft und er sich nicht erneut radikalisiert …
Werner Sohn studierte Sozialwissenschaften, Philosophie und Germanistik in Gießen. Zwischen 1986 und 2017 arbeitete er zur Krimi-nalprävention und -Dokumentation an der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden. Seit 2018 ist er in der Sicherheitsbranche.