Von allen an der Berliner Lindenoper uraufgeführten Opern Paul Dessaus hat es Schallplattenproduktionen gegeben, die dienlichsten mit den Ensembles der Uraufführungen unter Otmar Suitner, dem Generalmusikdirektor der Staatskapelle. Nur von dieser einen nicht: „Lanzelot. Oper in 15 Bildern nach Motiven von Hans Christian Andersen und der Märchenkomödie ‘Der Drache’ von Jewgeni Schwarz. Text von Heiner Müller (Mitautorin Ginka Tscholakowa)“ – so ihr vollständiger und sperriger Titel.
Vor dem deutschen Einmarsch in die Sowjet-union hatte der russisch-jüdische Schriftsteller Jewgeni Schwarz seine gegen Nationalsozialismus und Stalinismus gerichtete Märchenkomödie „Der Drache“ begonnen und unter dem Eindruck der Leningrader Blockade 1943 zu Ende geschrieben. Nach der Voraufführung, 1944 in Moskau, verboten, konnte die Erstaufführung für die UdSSR erst 1962 in Leningrad stattfinden, vier Jahre nach dem Tod des Autors. Die Erstaufführung für die DDR fand 1965 am Deutschen Theater Berlin in der Schumannstraße statt. Die Inszenierung von Benno Besson, in Bühne und Kostüm von Horst Sagert, mit der Musik von Reiner Bredemeyer und mit einem Schauspielensemble, wie es heute wohl keiner deutschsprachigen Bühne mehr zur Verfügung steht, diese Inszenierung ist legendär. Eine späte der über 580 Vorstellungen zählt zu den nachdrücklichsten Theatererlebnissen meiner Schulzeit.
Schwarz erzählt die alte Geschichte von Lanzelot, dem professionellen Drachentöter. Der befreit eine Stadt von einem Drachen, dem ihre Bürger jährlich eine Jungfrau zu Ehe und Verzehr zu stellen haben. Aber Schwarz erzählt auch die neuere Geschichte von Bürgern, die ihren Drachen mehr lieben als ihren Befreier. Lanzelot, der sich in die diesjährige Jungfrau verliebt hat, muß erkennen, daß Drachentöten ein unvollendetes, nicht zu vollendendes Projekt ist und die Befreiung der Menschen nicht durch ihn, sondern durch sie selbst zu organisieren.
Heiner Müller formte die Vorlage zu einem Gegenwartsstück
Paul Dessau hatte die Aufführung des Deutschen Theaters gesehen und die Eignung des Stoffs für die Oper erkannt. Er beauftragte Heiner Müller mit der Erarbeitung eines Librettos. Müller war einer der beiden Mitarbeiter an der Produktion des DT, die im Programmheft nicht genannt werden durften, der andere war Hartmut Lange, der eine aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen und in finanzieller Notlage lebend, der andere „republikflüchtig“.
Zwar wurde Dessau seines Komponierens wegen zeitlebens angegriffen, war aber seiner Biographie und Gesinnung wegen schwerlich angreifbar und nutzte seine privilegierte Situation immer auch zu praktischer Lebenshilfe. Er verdanke ihm mehr, als die Öffentlichkeit anginge, wird Müller seine Gedenkrede auf Paul Dessau beginnen und fortsetzen, daß er wisse, damit für viele zu sprechen. Der Komponist holte den Dichter aus beruflicher Isolation. Dem Libretto und der Oper geriet es zum Segen. Bessons Erfolgsinszenierung aber wird Müller in seiner Autobiographie „Krieg ohne Schlacht“ als „das Ende des politischen Theaters in der DDR“ abhaken: „Jewgeni Schwarz’ antistalinistische Parabel war durch die Inszenierung zu einem Märchenstück geworden. Der Drache war ein ‘wirklicher’ Drache, hergestellt von dem Theaterplastiker Eduard Fischer, der Feuer speien konnte, das Maul aufklappen, brüllen und donnern. Rolf Ludwig war ein guter alter Drache, ein Denkmal der Gerontokratie, aber die Idee, den Drachen außerdem zum Kinderschreck zu machen, entschärfte das Stück.“
Müller formte die Stückvorlage um und erweiterte die Parabel auf alle Systeme, in denen der Mensch dem Menschen kein Helfer ist. Die in der Märchenkomödie lediglich erzählte Vorgeschichte zog Müller auf die Bühne, von der Steinzeit bis in seine Gegenwart, und verlängerte sie in unsere Zukunft. Das historische Stück erschien als Gegenwartsstück, der Anachronismus als schöpferisches Prinzip, wie sich das für eine Oper gehört, für bis dahin in der DDR entstandene Opern nicht unbedingt.
Was und wer also könnte uns, die wir es so herrlich weit gebracht, aus einem 1969 uraufgeführten Stück noch angehen? Weniger vielleicht der Drache und seine Wandlungsfähigkeit, als vielmehr die vielen kleinen Drachen, die der Tod des einen großen Drachen gebiert, die Sehnsucht nach dem einen Drachen, der vor Drachen schützt, und die Drachenschuppen, die sich bei denen bilden, die vom Tod des Drachen profitieren: „Denn was den Drachen groß macht, ist der Zwerg“, geht ein Blankvers des Theaterdichters Müller. Heldentum, das sich auf sich selbst bezieht, stellt den Zustand immer nur wieder her, gegen den es antritt. In dem Theaterbild des Helden, der aus seinem Denkmal heraustritt und die Steine zum Tanzen bringt, schießt Müllers und Dessaus unverbrüchliche Hoffnung auf einen Aufstand der Arbeiter, „jeder in Kostüm und Maske einer anderen Gesellschaftsformation“, der Gefangenen, des Lastenesels und Katers zusammen, die Hoffnung auf ein historisches Subjekt, das heute nicht kommt, aber bestimmt morgen.
Dessau und Müller lassen ihre Oper an ein glückliches Ende kommen. Die Opportunisten werden erledigt, das Liebespaar findet zusammen, Tanz aller mit allen. Solche Verwandlungen, wo Morgen Heute wird, kennen wir seit Mozart und Schikaneder, deren ganzes Theater sich in eine Sonne verwandeln konnte. Aber verheißt der fragende Gestus des Chorfinales und das flüchtig angepappte Nachspiel wirklich auf ein glückliches Ende?
Eine wichtige Funktion weist Dessau dem „Lied der Thälmannkolonne“, das er 1936 für die Internationalen Brigaden im Spanienkrieg komponiert hatte, im Drachenkampf des zwölften Bildes zu. Es kann sich erst mit den Chorstimmen durchsetzen, die nach „Lanzelot“ rufen, der zu unterliegen drohte, und die Siegesphase des Kampfes einleiten – und wirkt wie eine Beschwörung der Kämpfe, die ihre ehemaligen Kämpfer als „führende“ Politiker der DDR verrieten. Das Prinzip Hoffnung hat Dessau bis zum Ende der DDR an dieser festhalten, seinen Kommunismus gegen den realen Sozialismus verteidigen, Schuld aufhäufen beim Schuldabtragen lassen: „Allen, die in unserer Republik für den Sozialismus kämpfen und arbeiten, widme ich zum XX. Jahrestag der Deutschen Demokratischen Republik diese Oper.“ Allen anderen nicht!
Intendanten fehlten Mut und Weitsicht für eine Inszenierung
In wohl keiner bis dahin in der DDR komponierten Oper sind die neuen Widersprüche der DDR so offen gestaltet worden, daß sie nicht allein in die glorreich überwundene Vergangenheit abgeschoben werden konnten. Es war nicht ihrem szenischen und personellem Aufwand geschuldet, daß sie nur einmal in Dresden und einmal in München nachgespielt wurde.
Wie wir alle klassischen Opern auch nach den Verhältnissen befragen, unter denen sie entstanden sind und deren Male sie tragen, und nach dem, was über diese Verhältnisse ins Heute vorausweist, damit es morgen überwunden werden könnte, so ist es auch mit dem Klassiker „Lanzelot“ zu tun. Denn einzig das rechtfertigte ja ihre Spielplanposition.
Dessau auf deutschen Bühnen aufzuführen war in den neunziger Jahren des vorigen und den Jahren des beginnenden 21. Jahrhunderts kaum möglich. Intendanten fehlten Mut und Weitsicht, Dirigenten und Regisseuren schlichtweg das Handwerkszeug dialektischen Musiktheaters. Eine Tradition war weggebrochen und nicht einfach mal so neu zu begründen. Einer, der sich das Handwerkszeug dialektischen Musiktheaters auf persönliche Art erarbeitet, zurechtgelegt und nicht aufgegeben hat, ist der Regisseur Peter Konwitschny.
Als einer der Regisseure von Bedeutung, den die DDR hervorgebracht und ausgehalten hat, ist Peter Konwitschny ihr immer doch verhaftet geblieben, weit über ihre Implosion hinaus. Wo der jüdisch-deutsche Komponist und Kommunist Dessau im Kampf gegen den Drachen die heroische Zeit der Arbeiterbewegung beschwört, da forscht der seelenwunde Analyst Konwitschny die in Grüppchen zerfallenden Klassen aus, den Gemeinsinn der Gemeinen und den Zusammenhalt der Haltungslosen, und amalgamiert die Aufarbeitung des schwierigen Verhältnisses zu seinem Staat mit dem schwierigen Verhältnis zu seinem autoritären Vater, dem Dirigenten Franz Konwitschny.
Im Jahr 2019 hatten sich das Deutsche Nationaltheater und die Staatskapelle Weimar mit dem Theater Erfurt zusammengetan, um die Oper auf die Bühne zu bringen: im 125. Geburts- und 40. Todesjahr des Komponisten, im 50. Jahr der Uraufführung und im 30. Jahr des Mauerfalls. Im November hatte sie ihre Weimarer Premiere, die Erfurter Aufführungsserie wurde durch die Corona-Maßnahmen vereitelt. Doch Konwitschnys Inszenierung, die nicht gesehen werden kann, kann gleichwohl gehört werden. Das Label audite hat den bearbeiteten MDR-Mitschnitt der Weimarer Vorstellung vom 23. November 2019, tontechnisch und editorisch exzellent aufbereitet, als Welt-Erst-einspielung vorgelegt.
Virtuose Beherrschung musikalischer Mittel und Formen
Hier ist eine Ensembleleistung von Solisten – Máté Sólyom-Nagy (Lanzelot), Emily Hindrichs (Elsa), Oleksandr Pushniak (Drache), die drei stellvertretend für alle nicht Genannten –, Chören und Orchester zu bestaunen, die Frucht sowohl musikalischer als auch szenischer Arbeit, beiderseits Arbeit am musikalischen Material. Unter der Leitung von Dominik Beykirch, Weimarer Musikdirektor, wird alles das hörbar, was Paul Dessaus Komponieren auszeichnet: das Erproben und – nicht in jedem Falle! – die virtuose Beherrschung avancierter musikalischer Mittel und Formen, immer dabei deren pointierte Kritik, die Integration unterschiedlichster musiktheatralischer Elemente und technischer Medien in sein gestisches Musizierkonzept: lakonischer Witz, proletarische Ironie, überzeitliche Schönheit, unerledigte Geschichte. Und Momente der Zartheit! Das Arioso des vom Drachenkampf erschöpften Lanzelot (Bild 14), nur begleitet vom Solo-Cello, wird in der singenden Gestaltung Máté Sólyom-Nagys zu einem Höhepunkt modernen Musiktheaters überhaupt. Wer klagt da noch herum, daß Neue Musik Gift für die Sängerstimme sei?
Ein informatives Beiheft enthält eine lesenswerte „musikalische Hörhilfe“ Dominik Beykirchs, audite stellt umfangreiches Zusatzmaterial zum Herunterladen zur Verfügung. Beykirch scheint – neben Gabriel Feltz, der letzthin an der Komischen Oper mit Nonos „Intolleranza 1960“ überzeugt hat (JF 40/22) – einer jener rarer Dirigenten zu sein, die den hauptstädtischen Orchestern Beine machen könnten.
Die Weimarer und Erfurter haben mehr getan, als nur ein Missing Link in der Werkfolge des Komponisten oder der deutschen Operngeschichte zu beseitigen. Sie haben mehr und Genaueres über das untergegangene Land DDR in Erfahrung gebracht als alle bisherigen historiographischen Hervorbringungen zusammen. Und sie haben der Oper „Lanzelot“ zu ihrer alten neue Aktualität hinzugewonnen. Was sie dem Hörer zu hören aufgetragen, das will er endlich wieder auf der Bühne sehen, deren Bretter ja, wie wir seit Schiller wissen, die Welt bedeuten. Beispielsweise auf der des heute zur Filiale internationalen Opernbetriebs heruntergewirtschafteten Hauses der Uraufführung. Hier ist die Rose, hier tanze!
Paul Dessau Lanzelot Libretto von Heiner Müller Staatskapelle Weimar Audite 2023