Kämpfern gegen Rechts wird praktisch ein übergesetzlicher Notstand zugebilligt. An formelles wie informelles Recht und Gesetz müssen sie sich nicht gebunden fühlen. Sie brauchen keine Rücksicht nehmen auf die informationelle Selbstbestimmung und das Post- und Fernmeldegeheimnis des Feindes, sie dürfen gegen ihn Stasi-Methoden anwenden, illegale Lauschangriffe, Hausfriedensbrüche, Sachbeschädigungen begehen. Tortenwürfe, Psychoterror, Belästigungen aller Art werden zu Kunstaktionen verklärt, Blockaden, Beleidigungen, Verleumdungen, Randale als bunter, phantasievoller, vielfältiger Widerstand gefeiert.
Sogar das Recht des Rechten auf seine körperliche Unversehrtheit ist disponibel. „Soll man gegen Unmenschen menschlich bleiben?“, lautet eine rhetorische Frage in Heinrich Bölls Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“. Gestellt wird sie von „der Zeitung“, dem Zentralorgan der anständigen Gesinnung. Einem vermeintlichen Nazi das Gesicht mit dem Hammer zu Brei zu schlagen, seinen Tod billigend in Kauf zu nehmen, ihn für das Leben zu zeichnen, sorgt bei den Anständigen keinesfalls für Abscheu, sondern für kaum verhohlene Schadenfreude. Die Justiz sieht das gelassen und meint, es gehe in diesem und ähnlichen Fällen darum, „die Opfer so zu verletzen, daß sie von ihren Aktivitäten ablassen“. Und diese Intention sei ja weiß Gott keine schlechte, im Gegenteil. „Rechtsextremisten entgegenzutreten ist ein achtenswertes Motiv“, urteilte im vorigen Jahr das sächsische Oberlandesgericht in einem Verfahren gegen Linksextremisten (JF 24/23). Überflüssig zu sagen, daß „rechts“, „rechtsextremistisch“, „faschistisch“, „nationalsozialistisch“ synonymisch verwendet werden. Die Forderung, bestimmten Rechten die Grundrechte zu entziehen, zeigt, daß die Hemmungen sinken, von der informellen zur formellen Entrechtung zu schreiten.
Legitimiert wird das mit den „Lehren aus der Geschichte“, wobei die „deutsche Geschichte“ beziehungsweise „die deutsche Vergangenheit“ sich auf die berüchtigten zwölf Jahre beschränkt. Nun ließe sich aus dem Dritten Reich und seiner Entstehung in der Tat allerhand lernen: Die Vermengung von nationalen Dispositionen und internationalem Mächtespiel zu einem hochexplosiven Gebräu. Die Funktion und Wirkungsweise von politischen Ideologien als Ersatzreligionen und ihre praktische Anwendung im Totalitarismus.
Die NS-Zeit bietet einen Anschauungsunterricht über die Abgründe des Massenzeitalters, in dem unstrukturierte, unberechenbare Massen leicht in Panikzustände und wahnhaftes Verhalten verfallen und kollektive Verunsicherung und Verzweiflung in Gewalt und Sadismus umschlagen. Lernen kann man, wie böse Affekte, die gewöhnlich institutionell gezähmt sind, zu staatlichen Tugenden aufgewertet werden.
Lernen kann man auch, daß totalitäres Verhalten sich im Rahmen anthropologischer Konstanten bewegt. Das beweist das Milgram-Experiment, das in den USA durchgeführt wurde und bei dem die Versuchsteilnehmer die Anweisung erhielten, das Fehlverhalten Dritter durch (in Wahrheit simulierte) Stromschläge zu bestrafen. Das Experiment zeigte, daß die meisten Versuchspersonen sich an den Anweisungen des Versuchsleiters und nicht an dem Schmerz der Opfer orientierten.
Im Film „Die Welle“ verwandeln aufgeklärte bundesdeutsche Schüler nach kurzer Konditionierung sich flugs in eine stramme Gefolgschaft. Man muß weder eine Hakenkreuzbinde noch einen roten Stern tragen, um in totalitäre Verhaltensmuster zu verfallen. Sie können aus der Mitte der demokratischen Gesellschaft erwachsen, wobei die Beteiligten subjektiv überzeugt sind, ganz demokratisch zu handeln.
Lehren aus der Geschichte zu ziehen, würde ein erweitertes „mimetisches Lernen“ voraussetzen. Der Begriff bezeichnet „nicht bloßes Imitieren oder Kopieren, sondern einen Prozeß, in dem in der mimetischen Bezugnahme auf andere Menschen und Welten eine Erweiterung der Weltsicht, des Handelns und Verhaltens erfolgt“, so der Anthropologe Christoph Wulf. Das hieße hier, sich in die historischen Umstände einzufühlen und gleichzeitig eine reflexive Distanz zu ihnen und den vorschnellen Gewißheiten über sie zu entwickeln. Eine Kombination aus historischer Kontextualisierung und vergleichender Verhaltensforschung würde zur längst fälligen Historisierung führen und das NS-Regime als eine exzessive Variante jenes Bösen erklären, das jederzeit als eine Möglichkeit menschlichen Handelns präsent ist.
Doch Kontextualisierungen, Vergleiche und Historisierungen sind unerwünscht. Es findet eine historische Verengung und Zwangsfixierung statt, die zu einer emotionalen Schubumkehr führt. Das heißt, „die Vergangenheit“ wird zu einem absolut Bösen mythisiert, dessen punktuelle Wiederkehr in der Gestalt vermeintlicher neuer „Nazis“ absolute Gegenmaßnahmen rechtfertigt. Nur ist diese absolute Qualität des Bösen nach Immanuel Kant auf den Menschen überhaupt nicht „anwendbar“, denn damit werde „das Subjekt zu einem teuflischen Wesen gemacht“, in dem „ein schlechthin böser Wille“, eine „gleichsam boshafte Vernunft“ waltet, für die „der Widerstreit gegen das Gesetz selbst zur Triebfeder“ wird.
Kant spricht „vielmehr von der Verkehrtheit des Herzens“, die „aus der Gebrechlichkeit der menschlichen Natur (entspringt), zu Befolgung seiner genommenen Grundsätze nicht stark genug zu sein“. Das ist, wie gesagt, eine ständig präsente Möglichkeit, und in diesem Sinne beschließt Joseph von Eichendorff seine vor dem Hintergrund der Französischen Revolution spielende Novelle „Das Schloß Dürande“ mit dem Satz: „Du aber hüte dich, das wilde Tier zu wecken in deiner Brust, daß es nicht plötzlich ausbricht und dich selbst zerreißt.“
Der zum „Kampf gegen Rechts“ ausgeweitete Antifaschismus stellt mittlerweile eine religiös aufgeladene Ideologie dar. Ausgerechnet das Bundesverfassungsgericht hat ihr 2009 neue Nahrung gegeben, als es die Entstehung der Bundesrepublik als „Gegenentwurf“ zum NS-Regime bezeichnete im Angesicht „des sich allgemeinen Kategorien entziehenden Unrechts und des Schreckens, die die nationalsozialistische Herrschaft über Europa und weite Teile der Welt gebracht hat“. Das ist – mit Verlaub – ein gestelzter Feuilletonismus, der historisch unterkomplex argumentiert und sachlich hinter Kant zurückfällt.
Der 2023 verstorbene Historiker Wolfgang Schivelbusch hat in seinem letzten Text „Der Faktor Capua“ (erschienen im Tumult-Heft vom Frühjahr 2023) als Hypothese formuliert, daß der Sieger der „Erbe“ des Besiegten wird. Die Überschrift erinnert an die Erste Schlacht von Capua im Zweiten Punischen Krieg 212 v. Chr., in der Hannibal die Römer besiegte, um danach der Verführung der römischen Lebensweise zu verfallen. Die Übernahme des Erbes kann ein positiver Lernprozeß sein, insbesondere wenn der Besiegte kulturell höhersteht als der Sieger. Das Erbe kann sich aber auch als ein „Leichengift“ erweisen, das vom toten Besiegten zum aufrecht stehenden Triumphator hinüberfließt und von ihm eingeatmet wird. Der ideelle Kern des Kampfs gegen Rechts ist ein permanenter Kampf gegen den toten NS-Drachen. Die Frage lautet demnach: Wieviel Leichengift hat der besiegte Drache bereits freigesetzt und setzt er weiterhin frei? Wieviel totalitärer Geist entäußert sich im Dauerkampf gegen seine Leiche?
Der Historiker Golo Mann war im Zweiten Weltkrieg in US-Uniform an der Propaganda-Front tätig. Anders als seine Schwester Erika hatte er sich die Empathie für Deutschland bewahrt. In seiner „Deutschen Geschichte“ urteilt er hart über den Bombenkrieg und die Massenvertreibung und betont mehrmals, „welchen Tiefstand die öffentliche Moral (damals) überall erreicht hatte. ‘Kriegsführende’, hat ein alter Historiker geschrieben, ‘tauschen Eigenschaften aus’. H.(itler) hatte nichts von den Angelsachsen übernommen, aber die Angelsachsen einiges von H.“ An anderer Stelle: „Die Welt schien rasch auf die Ebene herabzusinken, die der Unmensch vom ersten Kriegstag an beherzt beschritten hatte.“ Es gibt noch mehr solcher Sätze.
Nach Kriegsende überwogen bald die humanen Instinkte der Sieger. Zudem waren die Angelsachsen Pragmatiker. Der neue Hauptfeind war jetzt Stalin, die Westdeutschen wurden als Bündnispartner gebraucht. Auch die Russen handelten auf ihre Weise pragmatisch; sie wollten Deutschland nicht ausmerzen, sondern sein Potential ausbeuten. Die besiegten und – so Arnold Gehlen – „widerlegten“ Deutschen schwankten kopflos zwischen den Erzählungen der Sieger und den eigenen gegenläufigen Empfindungen und Erinnerungen.
Bundespräsident Richard von Weizsäcker, als er 1985 den 8. Mai zum „Tag der Befreiung“ – mit eingestandenermaßen harten Nebenwirkungen – erklärte, glaubte wohl eine salomonische Formel gefunden zu haben, die zur inneren Befriedung führen und Deutschland gleichzeitig mit dem internationalen Anti-Hitler-Narrativ versöhnen würde. In Wahrheit handelte es sich um den untauglichen Versuch einer Quadratur des Kreises. Weizsäcker selbst machte die Befriedung zunichte, indem er in der Rede die „Erinnerung“ an die NS-Verbrechen zur Daueraufgabe erhob. Genau das bedeutete die Zwangsfixierung auf das „Negativ des kulturellen Zusammengehörigkeitsgefühls“. (Herbert Speidel)
Den Furien des Verschwindens wurden damit endgültig Tür und Tor geöffnet. Die hypertrophe Überlegenheit des Eigenen, die der Nationalsozialismus predigte, ist umgeschlagen in die masochistische Überzeugung seiner totalen Wertlosigkeit. Die Wiedervereinigung hat die Entwicklung beschleunigt, denn die DDR hatte sich von Anfang an als antifaschistischer Gegenentwurf zum NS-Staat begriffen und ihre Legitimation daraus bezogen. Die Deutschen sind auf die Seite der Sieger getreten, ohne über deren Pragmatismus und nachträgliche Skrupel zu verfügen. Von Leichengift umnebelt, verfallen sie der neototalitären Imitation bis zur Selbstzerstörung, die nun auf die für unverwüstlich gehaltene deutsche Wirtschaft übergreift.
Im wachsenden Wählerzuspruch für die AfD äußert sich ein Überlebensinstinkt. Die Regierenden wissen keine andere Antwort darauf, als bundesweit den Veitstanz der Massen „gegen Rechts“ zu organisieren. Die von Krisenmeldungen und akuten Problemen gestreßten Demonstranten formieren sich zu temporären Großsekten, die im Gemeinschaftserlebnis emotionale Sicherheit suchen. Im übrigen bezeugen die Aufläufe nur ihren völligen Realitätsverlust.
Das ist lächerlich, aber auch gefährlich. „Denn alle Lust will Ewigkeit“, wußte Friedrich Nietzsche, und Hermann Broch betonte in der „Massenwahntheorie“, daß die verunsicherte, krisengeplagte Masse mehr will als nur eine temporäre Beruhigung. Sie sehnt sich nach dauerhafter Erlösung und nach Wiedergutmachung der Kränkungen, ausgestandenen Ängste und erlittenen Beschädigungen. Ihr Ziel ist eine „sadistische Superbefriedigung“. Zu dem Zweck werden die schwärenden Probleme auf den auserkorenen Feind projiziert; der Endsieg über ihn soll die Erlösung bringen. „Lynchakte, Pogrome usw. sind die Folge des damit einsetzenden Realitätsverlustes. Es ist ein Rückfall in magische Vorstellungen, ja sogar in die des Menschenopfers“. Der Spruch „AfDler töten“ – egal ob mit Punkt oder Ausrufezeichen – bezeichnet eine reale neue Möglichkeit des Bösen. Eine unheimliche Dynamik hat sich in Gang gesetzt.