© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/24 / 09. Februar 2024

Eher fragil als stabil
Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS: Vom Westen mit Finanzhilfen hofiert, dennoch von einer Erfolgsgeschichte weit entfernt
Marc Zoellner

Könnte ein nur handflächenbreiter kleiner Würfel einem krisengeplagten Land die lang erhoffte Wendung bringen? Zumindest senegalesische Journalisten zeigen sich derzeit zuversichtlich: „Der Senegal erreicht historischen Meilenstein mit der Übergabe seines ersten Satelliten“, so titelte der Fachblog „Space in Africa“ Ende Dezember vergangenen Jahres anläßlich des Besuchs des senegalesischen Bildungs- und Forschungsministers Moussa Baldé im Weltraumzentrum der französischen Universitätsstadt Montpellier. Über zwei Jahre lang hatten senegalesische Wissenschaftler an ihrem Kleinsatelliten der Kategorie „CubeSat“ gearbeitet. Ihr Ziel: Aus dem All nachhaltig Daten zu sammeln, mit denen Modelle nicht nur zur Darstellung, sondern ebenso zur Vorausberechnung von Niederschlägen und Verdunstungen, Überschwemmungen und klimatischen Veränderungen im Senegal erarbeitet werden können.

Für das kleine westafrikanische Land am Rande der Sahelzone, das von seinen Niederschlägen existentiell abhängig ist, könnte der Satellit eine Rettung quasi in letzter Minute darstellen. Zwei Drittel seiner heimischen Fleischproduktion, schätzt die UN, sowie mehr als 70 Prozent der auf den Märkten verkauften Milch stammen immerhin von den kleinen Herden umherziehender Viehhirten. „Doch die Regenzeit wird immer weniger vorhersagbar“, berichtet die US-Nachrichtenseite „Business Insider“. Aufgrund einer Dürre, wie sie Einheimische zuletzt in den 1980er Jahren erlebten, würde es „immer schwieriger, Weideflächen für Herden zu finden.“ Daß viele Viehzüchter derzeit Hunderte von Kilometern umherrirren würden, ist bislang ohne Satellit vor allem ein logistisches Problem, welches elementar zur Hungersnot im Senegal beisteuert. Fast anderthalb der 17 Millionen Senegalesen sind derzeit von Ernährungsunsicherheit betroffen.

Mali, Niger und Burkina Faso gehen wieder ihre eigenen Wege

Mit seiner Ernährungskrise ist der Senegal bei weitem kein Einzelfall in Afrika. Es sind gerade die Staaten der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS), welche seit Jahren von einer Krise in die nächste rutschen und seit vergangenem Herbst ihre Staatengemeinschaft mehr aus geopolitischen denn aus wirtschaftlichen oder kulturellen Gründen in zwei unvereinbare Machtblöcke zu zerspalten drohen. Dabei hatte sich die Wirtschaftsgemeinschaft ursprünglich hohe Ziele der Zusammenarbeit gesetzt: Gegründet am 28. Mai 1975, fanden sich in der ECOWAS 14 westafrikanische Staaten zusammen, um einen gemeinsamen Binnenmarkt zu errichten, der geplant in einer Währungs- und Paßunion münden sollte. Neben dem Senegal dienten als Gründungsmitglieder die regionale Wirtschaftsmacht Nigeria, die Atlantikanrainer Benin, Togo, Ghana, die Elfenbeinküste und Liberia, Sierra Leone, Guinea und Guinea-Bissau, letzteres das einzige portugiesischsprachige Land Westafrikas, und Gambia sowie mit Mali, Niger und Burkina Faso drei Binnenstaaten der Sahelzone. Im Jahr 1977 stießen die Kapverdischen Inseln als fünfzehntes Mitglied hinzu.

Doch das innere Machtgefüge der ECOWAS war seit je ausgesprochen ungleich gewichtet. Immerhin trägt allein Nigeria mehr als die Hälfte der Bevölkerung sowie fast zwei Drittel der Gesamtwirtschaftsleistung zur Gemeinschaft bei. Daß der Sitz der Staatengemeinschaft in der nigerianischen Hauptstadt Abuja liegt, ist von daher nur wenig verwunderlich. Im ECOWAS-Parlament, welches genau wie das Gemeinschaftsgericht ebenso in Abuja sitzt, verfügt Nigeria mit 35 von insgesamt 115 Abgeordneten über dreißig Prozent der Stimmen.

Seit Juli 2023 führt überdies der nigerianische Präsident Bola Tinubu den Vorsitz über die Gemeinschaft – und geht ausgesprochen rigoros gegen die Putschistenregimes seiner Nachbarschaft vor, die mittlerweile beinahe die Hälfte der Fläche der ECOWAS unter ihrer Kontrolle halten. Bereits Ende Januar 2022 setzte die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft die Mitgliedschaft Burkina Fasos aus; als drittem Staat der ECOWAS, nachdem schon im Mai 2021 Mali sowie im September 2021 Guinea die Mitgliedschaft entzogen wurde – sämtlichen aufgrund von Militärputschen. Im Juli 2023 sollte diesem Beispiel auf Druck von Nigerias Staatsoberhaupt der Niger folgen.

US-Außenminister sichert finanzielle Hilfen zu

Letzterem Mitgliedsstaat drohte Tinubu noch im selben Monat eine militärische Intervention der ECOWAS-Staaten an, sollte die Junta den inhaftierten nigrischen Präsidenten Mohamed Bazoum nicht aus der Gefangenschaft entlassen. In der Folge schloß die Militärführung in Niamey im September einen Beistandspakt mit den Juntas von Burkina Faso und Mali, die „Allianz der Sahelstaaten“ (AES). Ursprünglich als reiner Militärpakt konzipiert, möchte sich die AES zu einem diversifizierten Bündnis ausweiten; innerhalb der Strukturen der alteingesessenen ECOWAS bestehend und doch mit dieser konkurrierend. „Unsere Union muß sich im politischen und monetären Bereich weiterentwickeln“, verdeutlichte der nigrische Machthaber Abdourahamane Tiani seine Wunschvorstellung im November 2023. Zur gleichen Zeit sprach Burkina Fasos Premierminister Apollinaire de Tambèla sogar schon von einer „Union“ der drei Staaten. Am 28. Januar schließlich verkündeten alle drei Länder ihren „sofortigen Austritt“ aus der Gemeinschaft – allerdings entgegen der Satzung der ECOWAS, die hierfür ein Jahr Übergangszeit vorsieht.

Angesichts der nun wachsenden Einflußnahme Moskaus in diesen Ländern nach dem Rauschmiß Frankreichs und der Schmach Deutschlands und der EU besuchte US-Außenminister Antony Blinken Ende Januar die Elfenbeinküste und sagte 45 Millionen Dollar zu, um die Sicherheit an den westafrikanischen Küsten zu erhöhen und die Finanzierung eines laufenden Programms in der Region auf 300 Millionen Dollar zu erweitern.

Gegenüber der US-Presse wies Blinken in diesem Kontext darauf hin, daß er während des Treffens der Vereinten Nationen im September mit den Führern der ECOWAS-Länder darin übereinstimme, gemeinsam darüber nachzudenken, wie man am besten gemeinsam reagieren könne, „zum Beispiel in bezug auf Niger“. „Dabei ist es kein Geheimnis, daß es Unterschiede, unterschiedliche Ansichten zwischen den ECOWAS-Ländern gibt. Es ist wichtig, eine größere Kohärenz zu finden. (…) Und es ist wirklich die Aufgabe der ECOWAS-Führer, dies zu versuchen, aber sie werden die Unterstützung der USA haben“, so Blinken weiter.

Noch im Jahr 2019 begann in der ECOWAS die Planung für eine gemeinsame Währung, den sogenannten „Eco“. Zur damaligen Zeit erfüllte allerdings einzig Togo die strengen fiskalischen Kriterien, die sich der Staatenbund setzte. Trotz alledem hielt die Gemeinschaft auch 2021 noch an ihrem Ziel der Implementierung des Eco bis 2027 fest.

Die Militärputsche stellen die ECOWAS seitdem jedoch vor eine förmliche Zerreißprobe. Erst Mitte Dezember verließen die letzten 304 Bundeswehrsoldaten den Mali. Die Junta in Bamako hatte die UN-Friedensmission Minusma bereits im Juni vergangenen Jahres zum Verlassen des Landes aufgefordert und stützt sich seitdem auf die „Gruppe Wagner“ bei der Bekämpfung von Islamisten und separatistischen Tuareg. In der Folge geriet Mali in eine verheerende Eskalationsspirale: „Die Mission beschäftigte Tausende. Sie ersetzte praktisch den Staat, indem sie sich um Schulbildung, Brunnenbau und andere Dienstleistungen kümmerte“, erklärt der Islamwissenschaftler Ulf Laessing von der Konrad-Adenauer-Stiftung im Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung. „Nun werden viele arbeitslos. Vermutlich werden sich nun einige kriminellen Banden oder Dschihadisten anschließen, denn es gibt keine andere Lebensgrundlage.“

Nicht allein die Gründung der AES durch die vier Putschistenstaaten läßt die Einführung einer gemeinsamen Währung erneut in weite Ferne rücken. Auch die – wiederum auf Druck Nigerias – verhängten Sanktionen gegen die Sahelstaaten stellten eine Hemmschwelle für den westafrikanischen Traum eines gemeinsamen Binnenmarktes sowie den freien Transit von Menschen und Gütern dar. Mittlerweile verursachen diese Sanktionen auch in Nigerias Exportwirtschaft gewichtigen Schaden. Aufgrund der geschlossenen Grenzen berichten Bauern aus Nordnigeria, daß die kommende wichtige Zwiebelernte – immerhin in einem Volumen von 2,5 Millionen Tonnen – nicht in den Sahel exportiert werden könne und somit verderbe. Der entstehende wirtschaftliche Schaden wird auf etwa 430 Millionen US-Dollar geschätzt.

Neben der humanitären Tragödie entsteht Nigeria durch seine Sanktionen überdies ein nicht zu unterschätzendes Defizit an Devisen, welche für eine Modernisierung der maroden Infrastruktur dringend benötigt würden. So existiert mit dem „Trans-West African Coastal Highway“ (TAH) zwar schon eine die Küstenländer von Lagos in Nigeria bis Dakar im Senegal verbindende Fernstraße. Doch viele ihrer Etappen quer durch elf ECOWAS-Staaten hinweg befinden sich nach zwei Jahrzehnten intensiver Nutzung schon wieder in marodem Zustand, während andere Teilstrecken noch immer nicht asphaltiert werden konnten.

Gleich mehrere internationale Organisationen hatten dieses Mammutprojekt finanziell unterstützt; seit 2001 allein die „Neue Partnerschaft für Afrikas Entwicklung“ (NEPAD), das Wirtschaftshilfeprogramm der Afrikanischen Union. Zuletzt im März vergangenen Jahres versprach auch die Europäische Union auf einer UN-Konferenz in Doha dem Teilhaberstaat Guinea-Bissau eine Finanzspritze zum Streckenausbau in Höhe von 3,5 Millionen Euro. Allerdings sind diese Fördergelder geknüpft an Rahmenbedingungen wie Umweltschutz, Klimaresilienz und Nachhaltigkeit – für Guinea-Bissau als einer der ärmsten Staaten der Erde schier unerfüllbar.

Läuft der Binnenverkehr Westafrikas auch nur holprig, scheint zumindest die Reisefreiheit in der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft umgesetzt. Seit dem Jahr 2000 können ECOWAS-Bürger beinahe ungehindert zwischen den Grenzen ihrer Mitgliedsstaaten passieren, was zum einen die lokalen Arbeitsmärkte gerade der saisonal betriebenen Landwirtschaft erheblich fördert. Zum anderen erleichtert es jedoch mit Fokus auf die Sahelstaaten ebenso den Transit von islamistischen Insurgenten, von Angehörigen der in Westafrika agierenden Drogenkartelle – sowie selbstredend von Menschenschmugglern.

Bundeskanzler Olaf Scholz würdigt „gut funktionierende Organisation“

Vor diesem Hintergrund traf auch Bundeskanzler Olaf Scholz Ende Oktober 2023 bei seinem Nigeriabesuch mit dem ECOWAS-Präsidenten Omar Alieu Touray, zusammen. Nach dem Treffen bezeichnete der SPD-Politiker die ECOWAS als treibende Kraft für die Integration Westafrikas und als „eine starke und gut funktionierende Organisation“. Parallel dazu würdigte Scholz die Rolle der ECOWAS beim Ausbau der Stromversorgung in der Region und fügte hinzu, daß Deutschland dies unterstützen wolle, um „die Entwicklungsperspektiven der abgelegeneren Regionen zu verbessern“. Letztlich habe auch die Schaffung einer afrikanischen Freihandelszone ein enormes Potential, so der Kanzler. Abschließend würdigte Scholz die führende Rolle der ECOWAS bei der Förderung von Frieden und Sicherheit in der Region. Eine enge Zusammenarbeit sei wichtig, damit die jüngsten Putsche in der Region nicht zu einem Trend würden.

Vor diesem Hintergrund sicherte Entwicklungsministerin Svenja Schulze der ECOWAS-Vizepräsident Damtien Tchintchibidja Ende September 2023 eine Unterstützung in Höhe von rund 81 Millionen Euro zu, die für Zwecke der Friedensförderung und der wirtschaftlichen Entwicklung eingesetzt werden soll.