In Frankreich gerät die politische Landschaft immer mehr ins Rutschen. Präsident Emmanuel Macron versucht einen Neuanfang und setzt konservativere Akzente – auch um die stetig stärker werdende Konkurrenz von Marine Le Pen und den Rechten aufzuhalten. Die Uhr tickt für ihn. Schon bei der Europawahl im Juni droht ihm ein Debakel, der Rechten winkt ein Triumph. Mit seiner Regierungsumbildung im Januar hat Macron einen – vielleicht letzten – „Rettungsversuch“ unternommen, so urteilte Le Monde. Der neue Premierminister Gabriel Attal, zuvor Kultusminister, ersetzt die unbeliebte Élisabeth Borne und soll als jugendlich-frisches Gesicht der Regierung wieder Schwung geben. Doch ob das gelingt, ist noch fraglich.
Eine kleine, männliche und etwas rechtere Regierung
Zwar ist Attal bei einem Teil der Bevölkerung durchaus populär und wird im Élysée-Palast als „politisches Wunderkind“ gepriesen, doch begleitet ihn auch viel Skepsis. Eine Umfrage im Auftrag des Radiosenders Europe 1 und von CNews kurz nach seiner Berufung ergab, daß 52 Prozent der Bürger ihm nicht trauen. Vielfach wird der junge Politaufsteiger als „Klon“ des Präsidenten bezeichnet, dem er nicht nur äußerlich gleiche. Marine Le Pen kommentierte ätzend, die Berufung sei „der Gipfel des Narzißmus von Macron“, der hier sein „Mini-Ich“ als Premier eingesetzt habe.
Attal übernimmt eine neue Regierung, die kleiner, etwas männlicher und etwas rechter als die Vorgängerin ist. Er tritt sein Amt in einer schwierigen Zeit an. Die Franzosen sind unzufrieden. Die Bauernproteste, die gestiegenen Lebenshaltungskosten, die ungelöste Immigrationskrise, die schwindende innere Sicherheit mit islamistischen Anschlägen, der mörderische Überfall in Crépol durch Migranten und die soziale Verwahrlosung in den Vorstädten sind Faktoren, die viele Bürger bewegen. Macron ist als Präsident schwer angeschlagen, besonders seit dem Streit über das verschärfte Immigrationsgesetz, das nur mit Stimmen des rechten Rassemblement National (RN) verabschiedet werden konnte. Ein Sieg für Le Pen, den viele auf der Linken und auch in Macrons Partei „Renaissance“ als Dammbruch bejammerten. Daß der Verfassungsrat das Gesetz nun in Teilen verworfen hat, macht die Lage indes wieder schwierig. Die Regierung steckt nun abermals in einer heiklen Situation, das Migrationschaos bekommt sie nicht in den Griff.
Die Unruhen in den migrantisch-muslimisch geprägten Banlieues, wo es vergangenes Jahr wieder tagelange Krawalle und Brandstiftungen gab, will Macron nicht allein auf Einwanderer zurückführen, doch verspricht er auch dort mehr Sicherheit. Und Frankreich müsse sich zudem „demographisch wiederbewaffnen“, durch eine höhere Geburtenrate. All das sind konservative Punkte. Macron versucht damit der Rechten das Wasser abzugraben. Ihm selbst steht es bis zum Halse.
Sein eloquenter Premier Attal soll auch durch seine jugendliche Ausstrahlung den weiteren Aufstieg des RN stoppen. Im Präsidentenlager hofft man auf ihn als Geheimwaffe insbesondere gegen den erst 28jährigen RN-Präsidenten Jordan Bardella, Le Pens rechte Hand. Denn Bardella ist gerade in der jüngeren Bevölkerung äußerst beliebt. Nicht nur hat er auf TikTok mehr als eine Million Follower. Als einziger Politiker schaffte es Bardella auf die traditionell zum Jahresende publizierte Liste der 50 populärsten Persönlichkeiten Frankreichs, neben Schauspielstars, Sängern und Sportlern. Frédéric Dabi, ein führender Meinungsforscher, nannte das „eine beispiellose Leistung“.
Bardella tritt als Spitzenkandidat des RN für die Europawahl an. Anders als viele Hauptstadtpolitiker, die aus wohlhabenden Familien der Elite entstammen, kommt der Sohn von italienischen und algerischen Einwanderern aus kleinen Verhältnissen, hat sich hochgearbeitet. Er spricht mit der Jugend auf Augenhöhe und vermittelt ihr eine positive patriotische Vision. Zugleich hat er die außenpolitische Linie des RN korrigiert. Nachdem sie jahrelang mit Rußland flirteten, erklärte Bardella nach Rußlands Angriff auf die Ukraine, man sei Putin gegenüber viel zu lange naiv gewesen, damit müsse Schluß sein. Nach dem Hamas-Terrorangriff auf Israel gingen Le Pen und Bardella demonstrativ auf Demonstrationen gegen Antisemitismus.
Laut Umfragen sind die beiden auf der Liste der beliebtesten Politiker auf den dritten und vierten Platz aufgestiegen. Und erstmals in einer Dekade zeigte eine Umfrage im Auftrag von Le Monde jüngst, daß nun eine Mehrheit der Franzosen den Rassemblement National als Partei wahrnimmt, die regieren und nicht nur opponieren kann. Der RN führt gegenüber Macrons Partei mit zwölf Punkten Vorsprung bei Umfragen zu den Europawahlen im Juni.
Auch die beiden anderen Parteien auf der Rechten haben für diese Wahl recht junge Spitzenkandidaten ausgewählt. Für die Partei „Reconquête“ (Wiedereroberung) von Éric Zemmour tritt Marion Maréchal an, die 34 Jahre alte Nichte Le Pens, die sich mit dieser überworfen hat. Die Republikaner (LR) ziehen mit François-Xavier Bellamy in den Wahlkampf. Bellamy ist von dem Trio mit 38 Jahren der Älteste. Bevor er 2019 Europaabgeordneter wurde, unterrichtete der Cambridge-Absolvent als Philosophielehrer an einer Eliteschule und schrieb mehrere Bücher. Als Konservativer hat er sich gegen die Homo-Ehe und gegen Abtreibung ausgesprochen. Anders als Le Pen stehen Bellamy und Maréchal für eine wirtschaftsliberale Richtung.
Daß Bellamy Spitzenkandidat wurde – nach dem Desaster mit Valérie Pécresse bei der Präsidentschaftswahl 2022 – zeigt, daß Les Républicains unter ihrem Vorsitzenden Éric Ciotti nach rechts gerückt sind. Bellamy und Ciotti beklagen beide, daß Europa in Zeiten von Massenimmigration und islamischem Extremismus bedroht sei. „Europa hat seine Wurzeln aufgegeben“, kritisierte Bellamy jüngst in einem Interview.
Eine noch schärfere Sprache spricht Marion Maréchal, die Europa in einer „großen historischen zivilisatorischen Schlacht“ sieht: „zur Verteidigung unserer Identität, unserer Kultur und unserer Werte, die heute durch eine Flut von Migranten und die Islamisierung bedroht sind“. Bardella, Bellamy und Maréchal sind drei Vertreter einer jungen rechten Generation, die in der Zeit nach Macron und Attal das Land prägen kann. Der englische Historiker und Frankreich-Kenner Gavin Mortimer bezeichnete sie schon als die „drei rechten Musketiere“ Frankreichs – nur sei noch unklar, ob sie es schaffen, ihre Gegnerschaft und Konkurrenz zu überwinden und zum Motto der drei Musketiere zu finden, die gemeinsame Sache machen.