Jedes Mädchen hat Zukunftsträume. Prinzessin, Pferdewirtin oder sogar Ärztin möchten einige werden. Daß eine auf dem Wunschzettel ihres Lebens „Prostituierte“ schreiben könnte, ist auszuschließen. Doch trotzdem dieses „älteste Gewerbe der Welt“ erniedrigend und entmenschlichend ist, üben es in Deutschland Hunderttausende Frauen aus. Dabei bringen sie sich täglich in Lebensgefahr, werden möglicherweise sogar vergewaltigt – von Männern, die glauben, das Recht dazu zu haben, weil sie dafür bezahlen. Um die Frauen aus der gesellschaftlichen Ächtung zu holen, trat vor knapp sieben Jahren das Prostitutionsschutzgesetz in Kraft. Genutzt hat es nichts, die Kritik am Gesetz wird immer lauter. Als „Bordell Europas“ bezeichnete Unionsfraktionsvize Dorothee Bär das Land inzwischen. Eine Bestandsaufnahme.
„Das Prostitutionsschutzgesetz von 2017 ist eine nett gemeinte Idee, um der Stigmatisierung entgegenzuwirken und den Job ein bißchen weniger gefährlich zu machen“, sagt Johanna L. der JUNGEN FREIHEIT. Die studierte Kunsthistorikerin lebt in einer deutschen Großstadt. Dort arbeitet sie seit vier Jahren in der Prostitutions-Aussteigerberatung. Weder dürfen wir ihren wahren Namen noch den der Stadt nennen, in der sie arbeitet. Es drohe der Jobverlust, sagt die Frau, die sich politisch im links-alternativen Spektrum verortet.
Das deutsche Gesetz verpflichtet jede Frau, sich anzumelden
„Diese Aussteigerprogramme werden, solange sie nicht kirchlich organisiert sind, ausschließlich von Linken betrieben, und die nennen Prostitutionsgegner oft rassistisch. Denn das Ablehnen der Prostitution würde Migrantinnen daran hindern, Geld zu verdienen.“ Die Vorstellung, mit einem konservativen oder rechten Medium zu sprechen und die Lebens- und Arbeitssituation der Prostituierten zu schildern, sei deshalb für ihre Kollegen ein Tabu. „Dabei habe ich die Erfahrung gemacht, daß gerade Konservative zuhören und wirklich ein ehrliches Interesse daran haben, die Situation, in der sich Prostituierte befinden, zu verstehen.“
Unter welch gefährlichen und potentiell traumatisierenden Umständen die meist ausländischen Frauen versuchen, Geld zu verdienen, ist für Außenstehende nicht vorstellbar. „Schätzungsweise gibt es 400.000 Frauen, die täglich in Deutschland anschaffen“, sagt L. Wirklich verläßliche Zahlen darüber gibt es nicht. Der altbekannte „Strich“ verschwindet immer mehr aus dem Blick der Öffentlichkeit.
Ein großer Teil der Frauen schafft in Wohnungsbordellen an. „Dort herrscht ein reger Wechsel“, sagt L. „Wöchentlich, spätestens monatlich, werden die Frauen durch die Zuhälterringe ausgetauscht. Sie kommen gar nicht auf die Straße, sie wissen oft nicht einmal, in welcher Stadt sie gerade sind. Die Luden kaufen für sie beim Billigmarkt ein, bringen die Plastiktüten dann in die Wohnung.“ Die Frauen stammen vielfach aus Osteuropa, Afrika und Asien. „Durch die EU-Osterweiterung findet Menschenhandel noch einfacher statt“, kann L. berichten. „Dabei werden die Zuhälterei und der Mädchenhandel zunehmend durch Clans organisiert. Die Deutschen werden immer mehr zur Minderheit unter Zuhältern.“ Für diese Männer sind die meist unter Vortäuschung falscher Tatsachen nach Deutschland verfrachteten Frauen schon aufgrund der Sprachbarriere brauchbares „Menschenmaterial“. Darüber hinaus kennen sie nicht die Gesetzeslage.
Allein dieser Punkt macht das Prostituiertenschutzgesetz (ProstSchG), das am 1. Juli 2017 in Kraft trat, zur Farce. „Personen in der Sexarbeit“ seien seither verpflichtet, „ihre Tätigkeit bei der zuständigen Behörde anzumelden“, ist auf der Serviceseite der Stadt Berlin zu lesen. So wolle man erreichen, daß „Sexarbeitende Zugang zu umfassenden Informationen und Hilfeangeboten erhalten und so ihre Rechte besser kennen und wahrnehmen können“.
Die Ausstiegsberaterin L. sagt: „Die Frauen, die das verstehen, machen schon nicht wegen der Steuern und dem halbjährlich vorgesehenen Gesundheitscheck mit.“ Dazu komme noch die Kondom-pflicht. Die sei zum Schutz der Frauen gedacht, aber nicht umsetzbar. „Und wo soll denn das Personal dafür herkommen? Das ist weder bezahlbar, noch kann beim Verkehr ein Beamter danebenstehen.“
Abgesehen davon, so berichtet L., wollten es viele Freier nur ohne Kondom machen, und einige zögen das Präservativ auch während des Aktes ab. „Die Frau kriegt das oft gar nicht mit. Außerdem unterbieten sich die Frauen im Preis gegenseitig.“ Preis-Dumping sei die Folge. „Da kostet dann ein kondomfreier Akt 10 Euro.“ Darüber hinaus respektierten viele Freier vereinbarte Grenzen nicht. Viele verhandelten während des Aktes nach. „Wenn eine Frau dann drei- oder viermal in ein paar Minuten gefragt wird, ob sie sich oral oder anal penetrieren läßt und das bitte schön ohne Kondom, gibt sie irgendwann einfach nach, damit es schnell zu Ende geht.“
Vater Staat mag Gesetze zum Schutz der Frauen und Mädchen erlassen. Dieser Schutz setzt allerdings voraus, daß die Frauen sich frei entscheiden könnten. „Doch genau das können sie nicht“, sagt L. „Die Frauen vegetieren eher wie im Zustand eines Sklaven auf einer Baumwollplantage in den ehemaligen Südstaaten Amerikas.“ Selbst wenn sie wollten, könnten sie sich nur schwer anmelden – ohne Sprachkenntnisse und Paß. „Der wird ihnen spätestens in der Bordellwohnung abgenommen, und sie leben in ständiger Todesangst vor Zuhältern und Freiern.“
Das jüngste Bundeslagebild zu Menschenhandel und Ausbeutung (2022) des Bundeskriminalamt zeigt, die Anzahl der Verfahren bei sexueller Ausbeutung und Arbeitsausbeutung seien im Vergleich zum Vorjahr um 18,9 Prozent auf 346 abgeschlossene Verfahren „stark gestiegen“. Die Kriminalisten zählten 476 Opfer, ein Plus von 14,1 Prozent und 488 Tatverdächtige, ein Plus von 24,8 Prozent zum Vorjahr. Damit sind die Zahlen der Vor-Corona-Jahres 2019 erreicht. Bei geschätzten 200.000 bis 400.000 Frauen, die als Prostituierte anschaffen müssen sind das verschwindend geringe Ermittlungserfolge.
Welches Personal soll die Kondompflicht überprüfen?
Der Ermittlungserfolg der Polizei ist augenscheinlich vom Aussageverhalten der Opfer, das der Kripo fundierte Verdachtsmomente liefert, stark abhängig. Deutsche Opfer haben einen Anteil von 27,9 Prozent im Jahr 2022. Das sind 133 Prostituierte. Es folgen 72 Bulgarinnen, 63 Frauen aus Rumänen, 38 aus China, 35 aus Thailand, 30 aus Vietnam und 19 aus Ungarn.
Deutsche Opfer seien in der Regel besser über ihre Rechte informiert, hätten üblicherweise mehr Vertrauen in die Strafverfolgungsbehörden und seien meistens besser als ausländische Opfer in die Gesellschaft integriert, heißt es im BKA-Lagebild zur Aussagebereitschaft. „Daher ist die Wahrscheinlichkeit, daß sie den ausbeuterischen Charakter ihrer Tätigkeit bei der Polizei anzeigen, generell höher als bei ausländischen Opfern.“ Wenn man davon ausgeht, daß weniger als zehn Prozent der Prostituierten hierzulande Deutsche sind und wohl auch keine Zwangsprostituierten, diese allerdings mit knapp 28 Prozent die höchste Aussagebereitschaft haben, kann man sich vorstellen, wie gering der Ermittlungserfolg der Polizei ist.
Dazu käme eine weitere Verschiebung der klassischen Bordell-, Bar- und Straßenprostitution hin zur Wohnungsprostitution und zu Haus- und Hotelbesuchen, so die Ermittler. Allerdings war diese schon vor Corona absehbar. Wie solch eine Wohnungsprostitution für Frauen ausgehen kann, zeigt ein Fall aus Koblenz.
Der Anblick sei auch für erfahrene Ermittler ein Schock gewesen, berichtet „SWR Aktuell“ am 6. Dezember 2023. Die Bulgarin war zwei Wochen zuvor reglos in einer Wohnung im Koblenzer Stadtteil Rauental aufgefunden worden. Die Prostituierte starb kurze Zeit später im Krankenhaus. Sie sei vor ihrem Tod „brutal mißhandelt worden“, berichtet der Sender und beruft sich auf Aussagen von Ermittlern.
Johanna L. hat schon Hunderte Mal an Bordellwohnungen geklingelt. Dabei sind die Adressen geheim, oder doch nicht? „Die besten Informationsquellen sind die Freierforen und offiziellen Internetseiten. Dort stehen die Adressen“, sagt sie. Auf kaufmich.de können sich Freier die Frauen, die ihren Körper für Geld anbieten, nicht nur anschauen. Die Freier können auch unter verschiedenen Kriterien auswählen wie Nationalität, Ethnie, Sprache, Gewicht, Größe, Rasur, Länge und Farbe der Haare – ein Online-Kleinanzeigenmarkt zur Triebabfuhr.
Vor dem nordrhein-westfälischen Landtag in Düsseldorf nahm am 14. Januar 2021 Kriminaloberrat a. D. Helmut Sporer als Sachverständiger vor dem Ausschuß Gleichstellung und Frauen Stellung. Es ging um einen Antrag von CDU und FDP: „Nein! Zum Sexkaufverbot des Nordischen Modells – Betroffenen helfen und nicht in die Illegalität abschieben.“ Sporer arbeitete bis 2020 etwa dreißig Jahre bei der Kripo Augsburg. Er leitete unter anderem ein Kommissariat zur Bekämpfung des Menschenhandels.
„Entkriminalisierung?“ – eine erfahrungsgemäß schlechte Idee
Vor den Abgeordneten führte er aus, daß sich die Zusammensetzung der Prostituierten in den letzten 25 Jahren geändert habe. Sei Anfang der 90er Jahre eine ausländische Prostituierte noch die absolute Ausnahme gewesen, dominierten Frauen aus dem Ausland inzwischen mit einem Anteil von 90 Prozent den Markt. Ausländerinnen arbeiteten in Massenbetrieben. Sie seien sogenannte Opfertypen, die unter Zwang oder aus blanker Not anschafften. Deutsche arbeiteten nur noch in Nischenbereichen, die rund fünf Prozent Marktanteil hätten, wie SM-Studios oder Luxusappartements, sie seien meist „selbständig und eigenorganisiert“.
Auf der Startseite von kaufmich.de bittet der „Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen e. V.“ um Spenden. Der wurde 2013 in Köln von Betreiberinnen von Dominastudios gegründet. Sie wollen die Entkriminalisierung der Prostitution in Deutschland vorantreiben. Polizeiliche Kontrolle ist dabei bekannterweise geschäftsschädigend.
Genau dieser Entkriminalisierung will Johanna L. entgegenwirken, jedenfalls wenn es um die Freier geht. Gemeinsam mit ihren Kolleginnen spaziert sie deshalb auf Demos, verteilt Flyer mit ihren Notrufnummern. Das Sorgentelefon ist 24 Stunden am Tag besetzt. „An sich ist es dafür gedacht, daß Prostituierte anrufen können und sagen können ‘ich will nicht mehr, ich möchte normal arbeiten gehen’. Unser Ziel ist es, die Frauen auf dem Weg aus der Prostitution zu begleiten. Eine Wohnung zu finden, eine Perspektive aufzuzeigen. Deshalb sind wir auch seit Monaten im Gespräch mit Politikern und haben Kontakte zu Wohnungsbaugesellschaften.“
Ein eigenes Dach über dem Kopf hätten nur wenige der Frauen. „Das ist auch eines der Druckmittel, abgesehen von dem Drogenkonsum und der Androhung körperlicher Gewalt, mit denen die Zuhälter die Frauen erpressen.“ Denn offiziell ist es verboten, am eigenen Schlafplatz anzuschaffen. Die Frauen lebten oft in Wohnungen, die den Zuhältern gehören. „Wenn sie nicht mehr anschaffen, wirft er sie raus, und so würden sie schnell in die Obdachlosigkeit abrutschen.“
Heiligabend besucht Johanna L. einige Frauen, verschenkt Kondome und Feuchttücher. „Wobei ich es wenigstens an den Feiertagen besser finden würde, wenn es nur Schokoweihnachtsmänner oder Osterhasen gäbe, aber Kondome sind teuer, und die Frauen müssen sie selber zahlen.“ So wie sie im Bordell die Zimmermiete vorstrecken müssen. Rund 120 Euro die Schicht, „also rund drei Freier“, rechnet Johanna L. vor. So wie die Frauen 30 Euro für jedes Drücken des Notrufs zahlen müssen, damit dann einer der herbeieilenden Rocker einen prüfenden Blick ins Zimmer und auf den brutalen Freier wirft.
Bordelle seien einer der Tiefpunkte der Doppelmoral, sagt Johanna L. Drogen sind dort verboten. „Aber die Türsteher und Security-Mitarbeiter sind oft Dealer.“ Und die Frauen nähmen die Betäubungsmittel, um diese Arbeit zu bewältigen. „Dadurch sinken die Einnahmen, und sie müssen noch mehr anschaffen, um wenigstens die Zimmermiete bezahlen zu können. Dann brauchen sie noch mehr Drogen, um die psychischen und physischen Schmerzen zu ertragen. Viele Frauen ertragen das nur, indem sie sich wegscheppern.“ Der finanzielle Druck halte sie in der Prostitution. Andererseits seien viele so traumatisiert, daß ihr Drogenkonsum steige – ein klassischer Teufelskreis.
Zwar können Frauen Freier theoretisch ablehnen, finanziell können sie sich das aber nicht leisten. „Man muß sich das einmal vorstellen“, sagt Johanna L.: „Sie sitzen in einem Bus und schauen sich um. Schauen Sie den zehn Männern, die dort vielleicht sitzen, ins Gesicht. Als Prostituierte müssen sie mindestens mit acht von denen ins Bett. Wenn Sie jetzt sagen, das würde ich nie machen, dann sind sie zwar normal, aber in dem Beruf falsch. Die Gewinner sind nämlich immer die Männer. Seien es die Zuhälter, die Freier oder die Dealer.“