© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/24 / 09. Februar 2024

Einen Gegner abschrecken
„Steadfast Defender“: Im größten Manöver seit langem übt die Nato den Bündnisfall / Bundeswehr droht neues Milliardenloch
Peter Moeller

Auf Autobahnen und Bundesstraßen in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg herrschte in den vergangenen Tagen ungewöhnlicher Verkehr. Rund hundert Fahrzeuge der Bundeswehr waren unterwegs, um vom Truppenübungsplatz Oberlausitz in Sachsen nach Möckern im Jerichower Land in Sachsen-Anhalt und von da aus weiter in die Colbitz-Letzlinger Heide nördlich von Magdeburg zu verlegen, teilte das Territoriale Führungskommando der Bundeswehr mit. Bei den Einheiten handelte es sich um einen Teil der Deutsch-Französischen Brigade, die am nun begonnenen Nato-Manöver „Steadfast Defender“ („Standhafter Verteidiger“) teilnimmt. Die Soldaten sollen nach Angaben der Bundeswehr unter anderem üben, Einheiten und Verbände zu verlegen.

Doch das ist nur ein Aspekt der Großübung, die noch bis Ende Mai dauert. Denn wenn sich in den kommenden Wochen zehntausende Nato-Soldaten und zahlreiche Panzer, Flugzeuge und Schiffe des Bündnisses zum größten Manöver seit dem Ende des Kalten Krieges in Bewegung setzen, dann steht ein viel größeres Ziel im Mittelpunkt: Rußland soll vor dem Hintergrund des Krieges gegen die Ukraine deutlich gemacht werden, daß jeglicher Angriff auf das Territorium eines Nato-Mitglieds weitreichende Folgen hätte. Denn in den westlichen Hauptstädten wächst die Sorge, Moskau könnte bei einem Erfolg in der Ukraine in absehbarer Zeit versuchen, das Bündnis mit Militäraktionen gegen die baltischen Staaten herauszufordern.

„Deutschland ist das Rückgrat der Verteidigung Europas“

Das von den Nato-Planern vorgegebene Szenario der Übung, die – wenn bislang auch in deutlich geringerer Größe – alle drei Jahre stattfindet, ist denn nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur auch ein russischer Angriff auf alliiertes Territorium, der zum Ausrufen des sogenannten Bündnisfalls nach Artikel 5 des Nato-Vertrags führt. Dieser regelt die Beistandsverpflichtung in der Allianz und besagt, daß ein bewaffneter Angriff gegen einen oder mehrere Alliierte als ein Angriff gegen alle angesehen wird. „Die Allianz wird ihre Fähigkeit demonstrieren, den euro-atlantischen Raum durch eine Verlegung von US-Truppen zu verstärken“, beschreibt der Oberbefehlshaber der Nato-Truppen in Europa, der amerikanische General Christopher Cavoli, das Ziel. 

An der Militärübung beteiligen sich alle 31 Bündnisländer sowie der Beitrittsanwärter Schweden. „Wir bereiten uns auf einen Konflikt mit Rußland und Terrorgruppen vor“, macht der Vorsitzende des Nato-Militärausschusses, der niederländische Admiral Rob Bauer, unmißverständlich klar. „Wenn sie uns angreifen, müssen wir bereit sein.“ Doch neben dem Ziel, ein deutliches Signal in Richtung Moskau zu senden, geht es den Strategen darum, ganz praktisch zu testen, wie das Zusammenspiel der Streitkräfte im Ernstfall funktioniert und ob das, was am grünen Tisch geplant wird, im Ernstfall überhaupt funktioniert und umsetzbar ist.

Dazu mobilisiert die Nato bis Ende Mai mehr als 50 Schiffe, über 80 Kampfjets, Hubschrauber und Drohnen sowie mindestens 1.100 Kampffahrzeuge, darunter 133 Panzer. Deutschland spielt dabei eine Schlüsselrolle. Die Bundeswehr beteiligt sich an dem Manöver nach eigenen Angaben mit 12.000 Soldaten und 3.000 Fahrzeugen in einer Serie von vier Übungen, die unter der Bezeichnung Quadriga 2024 zusammengefaßt werden. Das System der Bündnisverteidigung solle mit der Übungsserie einem Streßtest unterzogen werden, sagte der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Alfons Mais.

Deutschland nimmt dabei die Funktion einer Drehscheibe ein: Quadriga 2024 wird die Landstreitkräfte der Bundeswehr fünf Monate lang immer wieder in Atem halten: von der Alarmierung der ersten Truppenteile im Januar bis zur großen Abschlußübung im Mai in Litauen. Etwa jeder sechste der 62.000 Heeresangehörigen ist nach Angaben der Bundeswehr direkt an der Übungsserie beteiligt. Sie besteht aus den drei Verlegeübungen Grand North, Grand Center und Grand South sowie der Abschlußübung Grand Quadriga. Die Bundeswehr übt in dieser Zeit in Deutschland, Norwegen, Polen, Ungarn, Rumänien und Litauen.

Neben der Deutsch-Französischen Brigade beteiligt sich unter anderem die Gebirgsjägerbrigade 23, die nach Norwegen verlegt wird, um an der Übung Nordic Response teilzunehmen, bei der der Kampf in Eis und Schnee trainiert werden soll. Die soeben aufgestellte Brigade 21 der neugeschaffenen sogenannten Mittleren Kräfte der Bundeswehr (JF 34/22) wird während der Übung Grand Eagle nach Litauen verlegt, um an einem Gefechtsschießen teilzunehmen. Den Höhepunkt des Nato-Manövers bildet aus deutscher Sicht im Mai die Teilübung Grand Quadriga, für die auch Teile der 10. Panzerdivision nach Litauen verlegt werden. Generalinspekteur Carsten Breuer läßt denn auch keinen Zweifel an der Bedeutung des Nato-Manövers: „Die Übung Quadriga ist ein wichtiger Schritt zur Kriegstüchtigkeit mit dem Ziel, einen Gegner abzuschrecken“, sagte er der Nachrichtenagentur dpa. „Deutschland ist das Rückgrat der Verteidigung Europas.“

Auch andere Nato-Truppen, die sich an dem Manöver und den Teilübungen beteiligen, werden Deutschland – wie schon zu Zeiten des Kalten Krieges – als logistische Drehscheibe nutzen. Die Verlegung der Einheiten erfolgt dabei sowohl per Eisenbahn, um den lange Zeit vernachlässigten Transport über die Schiene im großen Maßstab wieder zu üben, als auch über die Straße und per Luft- und Seetransport über deutsche Häfen. In den vergangenen Jahren ist bei ähnlichen Anlässen, neben einem Mangel an geeigneten Eisenbahnwaggons, die zunehmend marode zivile Infrastruktur zum Thema geworden. So sind nicht nur viele Straßen und Brücken in die Jahre gekommen; im Vergleich zu den achtziger und neunziger Jahren, als vergleichbare Großübungen stattgefunden haben, ist auch das militärische Großgerät vielfach schwerer geworden – eine zusätzliche Belastung für die strapazierte Infrastruktur.

Wie in einem richtigen Einsatz läuft natürlich auch bei einer Übung nicht alles glatt. Das durften die Nato-Planer gleich zu Beginn des Manövers erfahren. Noch bevor der Flugzeugträger „Queen Elizabeth“ der britischen Royal Navy in See stechen konnte, mußte die Teilnahme des Schiffes aufgrund von Problemen mit dem Antrieb abgesagt werden.

Schwierigkeiten ganz anderer und deutlich gravierender Art dürften in den kommenden Jahren auf die Deutschen zukommen. Die Bundesregierung hat für dieses Jahr Verteidigungsausgaben in Höhe von 89 Milliarden Euro bei der Nato angemeldet. Das entspricht 2,12 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und damit formal den im Bündnis vereinbarten Regeln. Freilich nur, weil zu den verteidigungsrelevanten Aufwendungen unter anderem auch der Finanzbedarf des Bundesnachrichtendienstes gezählt wird und der Haushalt des Verteidigungsministeriums auch das an Soldaten ausgezahlte Kindergeld enthält.

Erreicht wird das Zwei-Prozent-Ziel aber vor allem wegen des noch laufenden 100-Milliarden-Euro-Kreditprogramms („Sondervermögen“), das allerdings 2027 ausläuft. Im darauffolgenden Haushaltsjahr, so eine interne Finanzbedarfsanalyse des Bendlerblocks, die dem Spiegel vorliegt, drohen der Truppe dann rund 56 Milliarden Euro zu fehlen. Denn zwei Prozent der Wirtschaftsleistung entsprächen den Berechnungen der Beamten zufolge rund 97 Milliarden Euro. Diese Summe braucht die Bundeswehr auch in jedem Fall, um den Betrieb aufrechtzuerhalten, das Gerät instandzusetzen und neues anzuschaffen. Für weitere absehbare Aufwendungen wären wahrscheinlich sogar mehr als zehn Milliarden Euro zusätzlich nötig. 

Das Problem: Der reguläre Wehretat in vier Jahren wird mutmaßlich auf dem heutigen Niveau stagnieren und rund 51,9 Milliarden Euro betragen. Demnach bestünde ein Haushaltsloch von mindestens 56 Milliarden Euro. Oder eben eine Armee, deren Finanzierung nicht den im Bündnis vereinbarten Standards entspricht. Eine Abschreckung, wie sie die Nato in den kommenden Monaten üben will, sähe anders aus.