Wer bestimmt, welche Begriffe wir gebrauchen und welche Inhalte sie aufweisen? Allgemein beantwortet könnte man sagen: die öffentlich-politische Kommunikation. Wer aber ist für diese verantwortlich? Fast täglich fliegen uns Fake News, Verschwörungstheorien, Haßtiraden, alternative Narrative und vieles mehr um die Ohren, deren Ursprünge und Hintergründe meist im Verborgenen verbleiben. Besonders interessant ist die Frage, wie sich Begriffskonnotationen im digitalen Zeitalter verändern, in dem den virtuellen Netzwerken eine kaum zu überschätzende Bedeutung zukommt.
Armin Nassehi, der auch über den Zusammenhang von Digitalität und Gesellschaft vielbeachtete Studien verfaßt hat, geht der Signifikanz fundamentaler Begriffe der politisch-sozialen Sprache nach.
Vorbilder für die überschaubare, aber fundierte Darstellung sind zwei bleibend maßgebliche Referenzwerke der Geisteswissenschaften: das mehrbändige „Historische Wörterbuch der Philosophie“, herausgegeben von Joachim Ritter und das Reihenwerk „Geschichtliche Grundbegriffe“, das besonders mit dem Namen Reinhart Koselleck verbunden ist. Im Zeitalter des Internets wird man eher „Wikipedia“ heranziehen, was zwar bequemer sein mag, aber in der Regel keineswegs fundierter ist.
Was gilt nun in der politisch-sozialen Sprache? Nassehi erörtert 19 gängige Begriffe. Das erste Lemma ist „Demokratie“, es folgen „Freiheit“ und „Fremdheit“. Die drei letzten Stichworte lauten „Populismus“, „Technik“ und „Wissen“. Schon diese kurze Auswahl zeigt die unabdingbare Zeitgebundenheit. Vor rund zehn Jahren hätte man den Populismus-Begriff noch nicht als für die öffentliche Diskussion von Belang erachtet, eher für akademische Fachkontroversen.
In dieser Differenz ist eine der Zugangsweisen Nassehis auszumachen: Oft gehen zentrale Begriffe aus dem akademischen Diskurs hervor und werden auf diese Weise Teil der öffentlichen Debatte. Sie wirken von dort wiederum verändert auf die universitäre Sphäre ein. Es fällt positiv auf, daß der Autor erklärt, nicht belehrt. So entsteht ein tieferes Verständnis zum Ursprung und zur Bedeutung der Begriffe in der Gegenwart.
Nassehi kann nach dem Durchgang durch die ausgewählten „gesellschaftlichen Grundbegriffe“ dem 1998 verstorbenen „Chefsoziologen der Ära Kohl“, Niklas Luhmann, nicht widersprechen. Dieser hatte bemerkt, die Soziologie könne „neue Selbstbeschreibungen der Gesellschaft“ allenfalls anbrüten, nicht hervorbringen. Nach der Lektüre der neuesten Nassehi-Schrift kann man sagen: Ihr gelingt es, ein solches Ansinnen adäquat in die Tat umsetzt. Dies sollte nicht nur der Fachmann würdigen.
Armin Nassehi: Gesellschaftliche Grundbegriffe. Ein Glossar der öffentlichen Rede. Verlag C.H. Beck, München 2023, gebunden, 399 Seiten, 29,90 Euro