Der Ukraine-Krieg ist für die russische Kulturwissenschaftlerin Irena Scherbakowa eine direkte Folge der in den 1990ern zwar auf den Weg gebrachten, aber spätestens unter Putin gescheiterten Moskauer Vergangenheitspolitik. Wie die inzwischen im deutschen und israelischen Exil lebende Frontfrau der 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Menschenrechtsorganisation „Memorial“ beklagt, hätte nur eine „Vergangenheitsbewältigung“ nach deutschem Muster einen tiefgreifenden mentalen Bruch mit der kommunistischen Terrorherrschaft bewirkt (Blätter für deutsche und internationale Politik, 1/2024). Stattdessen sei die Befreiung von den stalinistischen Strukturen des repressiven Staats- und Parteiapparats in den Anfängen steckengeblieben, Prozesse gegen die Vertreter der Gulag-Nomenklatura versandeten ebenso wie Reformanstrengungen in der Justiz. Zu Beginn der Putin-Ära habe sich darum, als Konsequenz verdrängter Gewaltgeschichte, wieder ein „national-patriotisches“ Bild von Lenin und Stalin durchsetzen können, das heute im kollektiven Gedächtnis der russischen Gesellschaft von einer glanzvollen imperialen Vergangenheit künde, an die Putins Politik anknüpfe. Die „Ideen von Demokratie und Freiheit“ hingegen würden nur von einem kleinen, dank „Memorial“ besser informierten Teil der Bevölkerung geteilt.