Selbst Kennern der jüngeren deutschen Literaturgeschichte fällt beim Namen Kästner meistens nur der Verfasser von immer noch greifbaren Kinderbüchern wie „Emil und die Detektive“ und „Das doppelte Lottchen“ ein. Der in der alten Bundesrepublik mit seinen „Griechenland-Büchern“ höchst erfolgreich gewesene Erhart Kästner, der am 3. Februar 1974 starb, ist hingegen so gut wie vergessen. Zu Unrecht, denn Biographie und Werk spiegeln in schönster, repräsentativer Prägnanz das Selbstverständnis der heute fast ausgestorbenen Art des deutschen Bildungsbürgers.
Gründlicher als der 1904 geborene Erhart Kästner, väterlicherseits aus altem fränkischen Theologengeschlecht, hätte sich niemand in seinen Lehr- und Wanderjahren auf die Rolle des idealistisch timbrierten Hüters des angeblich zeitlosen „Guten, Wahren und Schönen“ vorbereiten können: Absolvent des Humanistischen Gymnasiums bei St. Anna in Augsburg, wo auch sein Vater als Gymnasialprofessor unterrichtete, kurze Lehrzeit im Leipziger Antiquariatshandel, zügiges Studium in Freiburg, in Kiel bei Friedrich Wolters, dem Majordomus des George-Kreises, und vor allem bei Hermann August Korff in Leipzig, der mit seinem monumentalen „Geist der Goethezeit“ ein Exponent der in den 1920ern in der Germanistik dominierenden geistesgeschichtlichen Schule war und der seinen Doktoranden 1927 mit einer Arbeit über „Wahn und Wirklichkeit im Drama der Goethezeit“ promovierte, einer „dichtungsgeschichtlichen Studie über die Formen der Wirklichkeitserfassung“, deren Thema auf eine noch ungeahnte Crux des Schriftstellers Kästner vorausweist, dem Kritiker nach 1945 vorwerfen werden, sich als zwischen offener Anpassung und klammheimlicher Opposition lavierender „innerer Emigrant“ stets für literarische „Wirklichkeitsflucht“ entschieden zu haben.
Nach dem Studium bleibt Kästner seinem Herkunftsmilieu treu, als Bibliothekar an der Sächsischen Landesbibliothek in Dresden. Die Jahre dort im barocken, „traumhaft schönen“, ihn in die Atmosphäre des „ewigen Feiertags“ hüllenden, eine Million Bücher bergenden Japanischen Palais am Elbufer machen in Kästners Leben Epoche. Freundschaftlich verbunden mit vielen Dresdner Literaten und Künstlern, stilgerecht in der neusachlich möblierten Turmwohnung einer Villa auf dem Weißen Hirsch residierend, reift er hier zum Typus des aus reichem Kulturerbe schöpfenden konservativen Intellektuellen heran. Als „Unpolitischer“ kann er sich leisten, die Bürgerkriegsagonie der Weimarer Republik genauso wie das Jahr 1933 zu ignorieren und schließlich einer weiteren glückhaften Weichenstellung zu folgen: In der Bibliothek lernt er den von jeher bewunderten, sein Bild von der griechischen Antike prägenden Gerhart Hauptmann kennen. Als dessen Privatsekretär folgt er dem Nobelpreisträger 1936 ins Riesengebirge, wo er für zwei Jahre zum Hofstaat des „Alten, der Menschen frißt“, gehört, bevor er sich vom nunmehr väterlichen Freund wieder abnabelt.
Eine endgültige Rückkehr ins Japanische Palais, wo Kästner nach dem dafür obligatorischen Eintritt in die NSDAP 1940 verbeamtet wird, verhindert der Zweite Weltkrieg. Der Bibliothekar mit dem „absoluten zivilisierten Herzen“, der das Soldatsein als „blödsinnige Zeitvertrödelung und absolute Unfreiheit“ verachtet, äußert böse Vorahnungen und sieht ein „Meer von Jammer, Barbarei und Weltunsinn“ vor sich, wird aber wieder von Fortuna verwöhnt. Im Frühjahr 1941, nach der Besetzung Griechenlands, landet Kästner, der bis zum 9. Mai 1945, als er von Rhodos aus den Weg als Kriegsgefangener in ein britisches Lager in der ägyptischen Wüste antritt, nie eine Waffe auf einen Menschen richten muß, als Unteroffizier und Dolmetscher in Athen, beim Befehlshaber Luftgau-Südost.
Realitäten der Besatzung sollten nicht „lebendige Antike“ stören
Für ihn und andere bildungsbeflissene Generale der Luftwaffe ist Kästner fortan als „Dichter im Waffenrock“ tätig. In ihrem Auftrag produziert er drei Beiträge zur „wehrgeistigen Führung“. Bücher, die als eine Kombination aus Baedeker und lyrischer Reiseprosa gehobener Stillage den Soldaten der Wehrmacht Eindrücke von Natur, Kultur und Geschichte Griechenlands vermitteln sollen, um ein positives Verhältnis der Besatzer zu den Einheimischen zu fördern. Zu diesem Zweck bereist Kästner bis 1944 als Wehrmachtspropagandist das Festland und die Inseln. Doch nur der erste Band der geplanten Trilogie, „Griechenland“, erscheint 1943, die erste Auflage des zweiten („Kreta“) vernichtet 1944 die Royal Air Force, der dritte („Die griechischen Inseln“) kommt erst aus dem Nachlaß zum Vorschein.
Der Autor war von der ersten Zeile an entschlossen – und ihm blieb wegen der Zensur auch gar nichts anderes übrig –, sich das „Erlebnis der lebendigen Antike“ nicht durch die andrängenden Realitäten der Besatzungsherrschaft kaputtmachen zu lassen. So schweigt er, und muß schweigen, über die teils von deutschen und italienischen Okkupanten, teils von der korrupten Athener Kollaborationsregierung verursachte verheerende Hungersnot im Kriegswinter 1941/42, der 100.000 Griechen zum Opfer fallen. „Grausames“, wie zwei vor seinen Augen auf der Straße verhungernde Kinder, protokolliert Kästner darum nur in privaten Aufzeichnungen.
Ebenso ausgespart bleibt der sich seit Herbst 1941 formierende Widerstand der von britischen Instrukteuren angeleiteten „Nationalen Befreiungsfront“, deren Partisanenarmeen bis Ende 1944 vier Fünftel des Landes kontrollieren. Daß die deutschen Reaktionen darauf, großflächige „Säuberungen“ und Zerstörung von Dörfern, Massen-exekutionen von Männern, Frauen und Kindern sowie wahllose Geiselhinrichtungen in Kästners Texten nicht vorkommen, versteht sich bis 1945 von selbst. So erfährt der Leser nichts über die 20.000 toten Griechen, die dieses Gemetzel hinterläßt. Allerdings auch nicht über die 150.000 Toten bis ins Jahr 1949, die der im Rücken der im Herbst 1944 abziehenden Wehrmacht ausgebrochene griechische Bürgerkrieg zwischen Königstreuen und Kommunisten kostete, den Kästner von der ägäischen Peripherie aus durchaus noch registrierte.
Stattdessen huldigt vor allem das Griechenland-Bild des ersten Bandes oft genug der NS-Rassen-ideologie. Anknüpfend an die berühmte These des Kulturhistorikers Jakob Philipp Fallmerayer, der zufolge die Neugriechen nicht von den indogermanischen Griechen der Antike, sondern von im Mittelalter zugewanderten Slawen und Albanern abstammen. So daß das „Mischvolk“ der Neugriechen aufgrund fehlender rassischer Kontinuität sich nicht mehr kulturschöpferisch hervortat.
Entscheidend für Kästners Wahrnehmung der griechischen Gegenwart ist jedoch nicht, daß ihm statt der homerisch-nordischen Heldengestalten ein auf unterer Kulturstufe vegetierendes Volk von „Levantinern“ begegnet. Entscheidend ist vielmehr, daß für ihn Landschaft, Licht und karge bäuerliche Lebensformen seit dem Untergang der antiken Kultur unverändert scheinen. In der schönen, weil kleinräumig-harmonischen Landschaft, in der die Tempelruinen längst Teil der Natur geworden sind, glaubt der Bergwanderer Kästner darum, die Präsenz antiker Götter unmittelbar zu erfahren. Diesen mit starker Bildkraft geschilderten naturreligiösen Schönheitserlebnissen, die den Alltag wie im Drogenrausch transzendieren, bescheren dem Autor einen „Vortraum von ewiger Seligkeit“, zeitlos entrückt vom Irdisch-Materiellen.
An diesem irrationalen Griechenland-Bild hat Kästner in der sonst vielfach veränderten Nachkriegsausgabe des ersten Bandes („Ölberge, Weinberge“, 1953) und weiteren Texten wie „Die Stundentrommel vom heiligen Berg Athos“ (1956) nicht gerüttelt. Das antike Hellas, das seinen bildungsbürgerlichen Lesern inmitten der mörderischen Realitäten von Diktatur und Krieg einen Fluchtweg zur privaten Insel der Humanität eröffnete, bot er ihnen auch während der Adenauer-Ära als geistiges Refugium an, um dort, „ewige Werte“ beschwörend, Fragen nach konkreter Schuld und Verantwortung für die mutmaßlich vorletzte deutsche Katastrophe auszuweichen.