© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/24 / 02. Februar 2024

Die menschliche Natur in Zeiten technischer Revolutionen
Ich hab die Hardware schön
Felix Dirsch

Zu den beinahe kanonischen Bestandteilen der konservativen Weltanschauung zählt die Priorisierung des Natürlichen vor dem Künstlichen sowie des Organischen vor dem Mechanischen. Der Reformkonservative Edmund Burke hat ein bis heute gültiges Credo auf den Punkt gebracht: „Der Staat ist die Gemeinschaft der Lebenden, der Toten und der Kommenden.“ Veränderungen aus dieser Perspektive sind sogar erwünscht, wenn sie evolutiv statt umsturzartig vor sich gehen sowie auf Kontinuität im Wandel setzen, mithin die Conditio humana beachten. Deren genaue Definition ist im bio- wie informationstechnischen Zeitalter hochumstritten.

In den letzten Jahrzehnten zeigt sich in der Argumentation besonders von Kulturkonservativen eine stärkere Fokussierung auf Bedingungen menschlichen Daseins. Bereits in den 1970er Jahren bestand einer der Hauptvertreter der „Rekonstruktion des Konservatismus“, der österreichische Schriftsteller Gerd-Klaus Kaltenbrunner, auf der Erhellung der Dimensionen des Menschseins: „Konservative Theorie nimmt ihren Ausgang vom Menschen und versteht sich als ein Beitrag zur Kunst, ein Mensch zu sein.“

Die tiefere Bedeutung dieses Diktums offenbart sich weniger in der damaligen Auseinandersetzung mit der Reformeuphorie der Neuen Linken als im Kontext heutiger Herausforderungen. Zur vielleicht größten zählt der Transhumanismus. Aus Gründen der Vereinfachung wird er im Folgenden nicht vom Posthumanismus unterschieden, obwohl beide Richtungen nicht ganz identisch sind. Der liberalkonservative US-Politologe Francis Fukuyama spricht vom Transhumanismus als der „gefährlichsten Idee der Welt“. Transhumanisten hingegen, von denen nur die bekannten Ray Kurzweil, Yuval N. Harari, Frank J. Tipler und Nick Bostrom zu erwähnen sind, verkünden ein besseres Leben der Menschheit in der Zukunft. Die Grundlage für einen derartigen Optimismus stellen lebensverbessernde medizinische wie technische Eingriffe dar. Das „Enhancement“ (engl. für Verbesserung) ist nach Meinung mancher Repräsentanten dieser Strömung so weit zu treiben, daß in letzter Konsequenz sogar der Tod ausgemerzt werden soll.

Die große Party Leben soll weitergehen. Das Lebensende gilt schon deshalb als unerwünscht, weil es die menschliche Lebenszeit zu stark verkürzt, um große Daseinsprobleme lösen zu können. Dem technisch perfektionierten Übermenschen könnte dies gelingen. Wo liegen die Ursprünge dieses Irrwegs der Moderne in eine posthumane Zukunft? Bereits Leonardo da Vinci parallelisierte Organismus und Maschine. Im 18. Jahrhundert sorgte der französische Erfinder Jacques Vaucanson (und einige seiner Nachfolger wie der Schriftsteller Diderot) für einen Kult um Maschinen, Automaten und technisierte Webstühle. Im 19. Jahrhundert wird Babbages Analytische Maschine berühmt. Friedrich Nietzsche fungiert im späten 19. Jahrhundert als Prophet des Posthumanismus.

Im engeren Sinn liefen sich aber die Repräsentanten des neuen Zeitalters erst seit den 1940er Jahren warm. Konturen der „Menschmaschine“ (Norbert Wiener) zeichneten sich mit Anbruch des kybernetischen Zeitalters immer klarer ab. Alan M. Turings Erörterungen über die Frage „Können Maschinen denken?“ liefert gute Gründe für eine wenigstens prinzipielle Äquivalenz. Im „Turing-Test“ hat diese Annäherung von humanem Denken und künstlicher Intelligenz nicht nur metaphorischen Ausdruck gefunden. Außerdem zeichneten sich seit den 1950er Jahren Möglichkeiten zu Eingriffen ins menschliche Erbgut ab, die irreversible genetische Veränderungen nahelegen.

Jahrzehnte später existieren viele Manifestationen dieser Überlegenheit des Computers. So sorgte etwa der Sieg des IBM-Computers Deep Blue 1997 über den Schachgroßmeister Garri Kasparow für großes Aufsehen. 2016 verlor der Go-Großmeister Lee Sedol gegen den Google-Algorithmus AlphaGo. Ein Menetekel für die Menschheit? Manche sehen es so. Die Fortentwicklung künstlicher Intelligenz bringt eine ganze Literatur hervor, die sich besonders um zwei Fragen dreht: „Wann übernehmen Maschinen“ (Klaus Mainzer)? Wie lange dauert noch die „Zeit des Menschen“ (Raimar Zons)? 

Ein neues Stadium auf dem Weg in die posthumane Epoche bedeutet die massenhafte Verbreitung des Smartphones mit seiner „menschenförmigen“ Gestalt. Mit dem Handy in der Hand des Menschen wird die Konvergenz von biologischer Evolution und technischem Fortschritt pointiert sichtbar, sogar in Umrissen der neue Mensch, dessen Genese sich durch die Moderne zieht. Man kann das Smartphone als Symbol für die Digitalisierung des Menschen begreifen. Er wird sukzessive zum „Atom im Internet der Dinge“ (Yvonne Hofstetter) degradiert, quasi ein geistiges Wesen auf der gleichen Ebene wie die für das Jahr 2030 geschätzten 100 Milliarden „geistigen“ Gegenstände im „Internet of Things“.

Diese Bedrohung humanen Daseins bringt vielfältige Versuche der „Verteidigung des Menschen“ (Thomas Fuchs) hervor. Um den Erhalt von dessen Natur sorgen sich der Liberalkonservative Fukuyama („Das Ende des Menschen“) und der Linksliberale Habermas, der sich schon vor über zwei Jahrzehnten gegen eine „liberale Eugenik“ ausgesprochen hat. Fukuyama wie Habermas wurden in den Debatten der letzten zwei Jahrzehnte gern als „Biokonservative“ bezeichnet. Diese Gruppe von Gelehrten argumentiert vor allem deshalb für die Besonderheit der menschlichen Natur, weil nur so Menschenwürde und Menschenrechte zu begründen sind. Ein christlich-konservativer Moralphilosoph wie Robert Spaemann ging in seiner Auseinandersetzung mit dem Utilitarismus noch weiter und stritt für das Konzept des Menschen als Person.

Innerhalb dieser Richtung wird die Frage debattiert, ob das Plädoyer gegen digitale Humantransformation den Rückgriff auf spirituelle Selbsttechnologien sowie den Sinn für das Heilige erfordert, wie es der Innsbrucker Dogmatiker Johannes Hoff und der Journalist Jan Roß unterstreichen. Oder reicht es aus, profane Leiblichkeit, Lebendigkeit und verkörperte Freiheit gegen ein ersehntes Hochladen des menschlichen Geistes in die Weiten des Cyberspace in Stellung zu bringen, wie es der Psychiater Fuchs beabsichtigt?

Jedenfalls ist auffallend, daß natürliche biologische Zellen andere Zellen suchen, um Gemeinschaften zu bilden, ja sogar ein beziehungsorientierter Lebensstil der Gene (Joachim Bauer) wurde ausgemacht. Künstlich verdrahtete Intelligenz hingegen entbehrt eines solchen Zuges. Digitaltechnik kann zwar vieles simulieren, auch sexuelle Leidenschaften, aber Kinder zeugen (in der Konsequenz) kann sie nicht. Man könnte weitere Defizite der Algorithmen anführen. Die Trauer um unwiderrufliche Verluste des Guten im Zuge des Fortschritts, für Konservative zu allen Zeiten ein Thema, ist heute relativ konkret zu benennen. Dennoch haben herausragende konservative Denker die Gefahren des Trans- und Posthumanismus im frühen 21. Jahrhundert kaum registriert. Solche Desiderate sind auch bei dem Philosophen Roger Scruton und beim weltweit rezipierten Sachbuchautor Jordan Peterson nicht zu übersehen. In dessen vielbeachteter Abhandlung „Konservatives Manifest“ ist die Problematik Künstliche Intelligenz und Digitalisierung ausgeblendet.

Wie könnte eine Apologie von dieser Seite aussehen? Traditionsorientierte Konservative können an zwei entscheidende Charakteristika des Homo sapiens anschließen, die ihn von technischen Apparaten unterscheiden: Transzendenzbewußtsein und natürliche Sprache. Beide Befähigungen stellt der Oxforder Literaturwissenschaftler und Kulturkonservative George Steiner in den Mittelpunkt seiner Studie „Von realer Gegenwart“: Die schöpferische, natürliche Sprache sei es, die allein große Kunst und Dichtung schaffen könne, im Gegensatz zum inflationär-sekundären Geschwätz und zur technisch leicht simulierbaren Syntax einer Kunstsprache. 

Der Inhalt von Steiners Buch ist auch ein Fingerzeig auf eine wichtige Aufgabe konservativen Denkens: auf die Verwirklichung der Trias des Wahren, Schönen und Guten. Sie zieht sich von Platon über die mittelalterliche Lehre von den Transzendentalien und das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus sowie der Weimarer Klassiker bis zu heutigen Verfassungstexten. Mögen solche höheren Werte auch aus der Zeit gefallen erscheinen, sie haben das menschliche Dasein doch stets veredelt und tun es auch noch heute. Wer kann schon daran zweifeln, daß der unaustilgbare Drang nach Wahrhaftigkeit eine grundlegende Voraussetzung war, die Lügenfassade des kommunistischen Systems einstürzen zu lassen? 

Dennoch steht eine großangelegte Implementierung der allzu oft entrückten Trias in den zeitgenössischen Diskurs noch aus. Vorsichtige Ansätze in dieser Richtung, wie sie die kürzlich verstorbene Georg-Büchner-Preisträgerin Sibylle Lewitscharoff in ihrer Poetikvorlesung 2011 („Vom Guten, Wahren und Schönen“) präsentierte, sind höchstens ein paar erste Schritte. Nicht zufällig geriet die Autorin in die Kritik, als sie in ihrer Dresdner Rede den biopolitischen Machbarkeitswahn anprangerte. Auch der Konservative kann sich dem Gebrauch digitaler Techniken kaum mehr verweigern, die unser Leben unter Umständen ja auch sehr viel nachhaltiger und effizienter machen. Doch wird man die Ambivalenzen dabei niemals übersehen dürfen. Gegenüber solchen Existenzformen wie dem Transhumanismus und den damit verbundenen utopischen Erwartungen sollte man um der menschlichen Gestaltungspotentiale willen immer weiter skeptisch bleiben.

Die herkömmliche Krone der Schöpfung weist auch in all ihrer Verwundbarkeit und Sterblichkeit noch genug Positives auf, um in ihrer Natur grundsätzlich bewahrt zu werden. Der vitruvianische und geometrisch eingepaßte Mensch Leonardo da Vincis, die humanistische Ikone am Beginn der – von Konservativen oft kritisch beäugten – Neuzeit, ist angesichts der transhumanistischen Gefahr verteidigungswürdig. Der Topos „Verlust der Mitte“ (Hans Sedlmayr), heute zu übersetzen als allmähliche Entmachtung des Menschen durch seine digitale Umgebung, ist vor diesem Hintergrund weit mehr als nur ein kulturpessimistisches Bonmot. Die Mitte ist der Ort der Behauptung des alten Adam im Angesicht von Algorithmen, künstlicher Intelligenz und Robotern.






Prof. Dr. Felix Dirsch, Jahrgang 1967, lehrt Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Politische Theorie in Armenien. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die philosophischen Grundlagen der Geopolitik („Geographie ist Schicksal“, JF 33/23).