© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/24 / 02. Februar 2024

Konservativ eingehegte Modernisierung
Dr. Jekyll & Mr. Hyde: Herbert Reineckers Krimi-serien „Der Kommissar“ und „Derrick“ im Spiegel der Bonner Nachkriegsrepublik
Dirk Glaser

Daß die Krimi-Serien der öffentlich-rechtlichen Medien zum Teil demagogische Belehrungen schlecht verpackt als Abendunterhaltung anbieten, ist spätestens seit 2015 offensichtlich. Seitdem mühen sich Drehbuchautoren und Regisseure im Dienst der „Willkommenskultur“, dem schrumpfenden biodeutschen Publikum der GEZ-Sender zu suggerieren, die „bunte Republik“ gehöre schon zu ihrem Alltag. Die Rolle der propagandistischen Speerspitze ist dabei der seit November 1970 laufenden Reihe „Tatort“ zugefallen, wo zunehmend Ermittler mit Migrationshintergrund Morde aufklären, die, der Kriminalstatistik hohnsprechend, fast ausschließlich von „weißen Deutschen“ begangen werden.

Ganz neu sind solche politischen Hand- und Spanndienste der Unterhaltungsbranche nicht. Wie Haydée Mareike Haass, Doktorandin am Institut für Zeitgeschichte (München/Berlin), in ihrer Studie über den Drehbuchautor Herbert Reinecker und dessen vom ZDF ausgestrahlte, enorm populäre, „das Bild vom demokratischen Nachkriegsdeutschland“ mitprägende Krimiserien „Der Kommissar“ (1969–1976) und „Derrick“ (1974–1998) zeigt (Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 10/2023). Auch Reinecker versuchte damit zwar gesellschaftliche Transformations- und Wandlungsprozesse, die sich in der Bonner Republik vollzogen, medial abzubilden und zu beeinflussen. Im Unterschied zur heutigen ÖRR-Volkspädagogik ging es damals aber nicht – ein Vergleich, den Haass wohlweislich gar nicht erst riskiert – darum, die Zuschauer auf von den „Eliten“ heiß ersehnte globalistische, postdemokratische und multiethnische Realitäten einzustimmen, sondern um die Re-Integration der Bundesdeutschen in die überkommene „Normalität“ der „atlantischen Zivilisation“, der demokratisch organisierten westeuropäischen Nationalstaaten. 

Auf den ersten Blick, den Haass’ Lebensskizze gewährt, schien ausgerechnet Reinecker jedoch nicht für  diese Umerziehungsmission qualifiziert. 1914 in Hagen geboren, dort gleich nach dem Abitur Volontär in der Presseabteilung der Gebietsführung Westfalen der Hitlerjugend (HJ), fungierte er nach steilem Aufstieg 1939 als Chefredakteur der HJ-Blätter Der Pimpf und Junge Welt. Um von diesen Posten aus eine „Cross-Media-Karriere“ zu starten, als Funktionär in der Reichsjugendführung, Drehbuch- und Kinderbuchautor, Beiträger des Völkischen Beobachters, des Schwarzen Korps und Kriegsberichter in der SS-Standarte „Kurt Eggers“, der SS-Division „Totenkopf“ und zuletzt in der SS-Panzer-Division „Hitlerjugend“. Vom Sieg der nationalsozialistischen Idee sei Reinecker bis Kriegsende überzeugt gewesen.

Ein neuer Typ von Ermittler: einfühlsam und gewaltfrei

Wie der junge NS-Ideologe das stattdessen eingetretene totale Fiasko verarbeitete, darüber weiß Haass wenig mehr mitzuteilen als daß er zunächst untertauchte und vor dem Entnazifizierungsverfahren in die Schweiz auswich. Im Zuge der Amnestiegesetze 1950 als „minderbelastet“ eingestuft, sei jedenfalls für ihn die Bahn frei gewesen, um mit einem immensen Ausstoß von Drehbüchern für Hörfunk, Kino und Fernsehen zu einer Größe in der Unterhaltungskultur der Adenauerära heranzuwachsen.

In den sechziger Jahren gelang ihm auch der Einstieg ins Krimiformat des ZDF, wo er mit fiktiven Dreiteilern wie „Babeck“ reüssierte, einem „Straßenfeger“ von 1968. Für Mainzer Programmdirektoren Empfehlung genug, Reinecker als alleinigen Autor für die neue Krimiserie „Der Kommissar“ zu engagieren. War das schon unüblich, weil man bei nur einem Skriptlieferanten die Gefahr von Produktionsengpässen in Kauf nahm, war es noch ungewöhnlicher, Reinecker das Privileg zu gönnen, nicht Kriminalakten nacherzählen zu müssen, wie etwa in der ARD-Serie „Stahlnetz“ (1958–1968), sondern Fälle erfinden zu dürfen. Mit diesem „fiktiven Prinzip“ sicherte sich der Autor jene Gestaltungsfreiheit, die es ihm gestattete, jede Folge politisch-moralisch aufzuladen. 

Als Träger dieser Botschaften betrat ein ganz neuer Typ von Ermittler die Bühne: einfühlsam und gewaltfrei. „Der Kommissar“, verkörpert von Erik Ode, war die erste deutsche Krimiserie, die sich vom Waffengebrauch distanzierte. Ebenso kam „Derrick“, gespielt von Horst Tappert, ohne Pistole, ohne reißerische Verfolgungsjagden und überhaupt mit minimaler „Action“ aus. Beide betulich wirkenden Protagonisten ähnelten daher mehr „Beichtvätern oder Therapeuten“ als Polizisten.

Ihrem Erfinder, dem ehemaligen SS-Kriegsberichter Reinecker, trug ein solches Rollenmuster den Ruhm eines „Ästheten der Gewaltlosigkeit“ ein. Der für Haass mit seinen Serienhelden als Repräsentanten nunmehr „sanfter Männer“, die aus dem „Schatten von Gewaltherrschaft und Vernichtungskrieg“ getreten waren, den ehemaligen Funktionseliten des Dritten Reiches sowie der breiten Masse einfacher Parteimitglieder ein „subtiles Identifikationsangebot“ machte. Wer sich nach dem Vorbild der beiden Kommissare „re-zivilisierte“, durfte erwarten, in die weltanschaulich und politisch geläuterte Nachkriegsgesellschaft wieder eingegliedert zu werden.

Größere Sympathien für konservative Warner

Die dementsprechende Stilisierung einer Polizei, die aus ihrer Geschichte als Teil des NS-Terrorapparats gelernt hatte und sich darum nicht länger primär als willige Vollstreckerin staatlicher Macht begriff, fand Haass in einem Text des Bundeskriminalamts von 1975, der den idealtypischen Polizisten beschrieb: Der Ermittler solle „Wärme ausstrahlen“, sich als Beamter erweisen, mit dem „man reden“ und „inneren Kontakt“ herstellen könne. Insoweit schienen Reineckers Drehbücher sozialmoralische Leitbilder adäquat umzusetzen, denen die von der Regierung Brandt/Scheel seit 1969 initiierte „Liberalisierung“ des Strafrechts und ihre auf Resozialisierung des Straftäters zielende Reformpolitik folgte.

Allerdings solle man die Grenzen von Reineckers Werbung für eine liberale Polizei in einer liberalen Gesellschaft nicht übersehen. Zum einen bleibe in all seinen Drehbüchern die – wie die mentalitätsgeschichtlich nicht einmal in die Weimarer Republik geschweige denn ins Kaiserreich zurückgehende Haass fälschlich urteilt – exklusiv vom Nationalsozialismus bis in die frühen 1970er geprägte Grundhaltung der konservativen Mehrheitsgesellschaft unangetastet. Leicht erkennbar fänden sich darin Versatzstücke von Gemeinschaftsvorstellungen aus dem NS-Rechtsdenken, die von der „Kontinuität nationalsozialistischer Normativität“ ebenso zeugten wie die – ungeachtet aller Zugeständnisse an den liberalen Zeitgeist – weiterhin „patriarchalen Ermittlertypen“. Agierten die „genuin männlichen“ Kommissare doch als unanfechtbare Autoritäten, und allein sie lösen die Mordfälle nach dem Motto „Hier denkt nur der Chef selbst“. Ihre Assistenten taugen höchstens als Stichwortgeber und Chauffeure. 

Die 1970er seien eben nicht nur ein Jahrzehnt sozialliberaler „Emanzipation“, sondern auch eins der „konservativen Tendenzwende“, konservativ eingehegter Modernisierung gewesen. Als eine Art Dr. Jekyll & Mr. Hyde habe Reinecker beiden Strömungen Tribut gezollt. Unterm Strich aber mit erheblich größeren Sympathien für jene konservativen Warner, die in der Liberalisierung der Bundesrepublik die Hauptquelle moralischer Degeneration, nachlassender Ordnungskräfte, erodierender traditioneller Lebensweisen und geschwächter Institutionen (Staat, Familie, Kirche) ausmachten. Die in Reineckers Krimiserien verübten Verbrechen, die nicht selten in durch enthemmten Konsum und sexuelle Freizügigkeit zerrütteten, in der oberen Mittelschicht angesiedelten Familienverhältnissen entspringen, würden darum von ihm, getreu nachhallender NS-Auffassungen, als unvermeidbar fatale Folgen dieses Auflösungsprozesses in Szene gesetzt.