Krisen sind oft Situationen, in denen Entscheidungen anstehen. Es geht nicht mehr so weiter wie bisher, aber auch der zukünftige Weg ist nicht klar. Eine Zeit des Nachdenkens setzt ein.
So ist es bei Julia. Sie engagiert sich über Jahre hinweg als aufopferungsvolle Krankenschwester. Nun ist ihr ein Fehler unterlaufen, der eine Patientin fast das Leben gekostet hätte. Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses folgt. Die Mittdreißigerin kehrt in ihr Heimatdorf im österreichischen Innergebirg zurück, das sie einst aufgrund der Enge der sozialen Verhältnisse gern verlassen hatte. Ihre Kindheit und Jugendzeit sind ihr plötzlich wieder nahe.
Die Frage nach dem Sinn von Arbeit stellt sich jeden Tag neu
Was sie in ihrer alt-neuen Umgebung erlebt, enttäuscht sie. Anstatt als verlorene Schwester mit offenen Armen empfangen zu werden, merkt sie schnell, daß die bekannten tristen Lebensverhältnisse dort mittlerweile noch hoffnungsloser geworden sind. Ihr Bruder ist behindert und auf Hilfe angewiesen. Der Vater hat ebenfalls seine Arbeit verloren. Die wichtigste Fabrik mußte schließen. Für eine Reihe der Bewohner resultieren daraus nicht nur finanzielle Schwierigkeiten, sondern die Frage nach dem Sinn von Arbeit stellt sich jeden Tag neu: „Es fehlt ihnen der Segen der Arbeit, der Dank der Ablenkung, damit es um nichts sonst gehen muß“, heißt es in einem der Dialoge. Diese finden vornehmlich in rauchgeschwängerten Wirtsräumen statt, wo die Männer versuchen, mit hitzigen Debatten, Alkohol und Glücksspielen die Zeit totzuschlagen. Ihre Perspektivlosigkeit wirkt armselig.
Die Ich-Erzählerin macht sich ein ums andere Mal Gedanken über die Gedankenlosigkeit des Arbeitermilieus, aus dem es auch in der Gegenwart kaum ein Entrinnen zu geben scheint. Besonders eingefroren erscheint die Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern. „Wie hat er [der Vater] sich das eigentlich vorgestellt, damals bei der Familiengründung? Er macht eine Skizze, einen Grundriß vom Haus, der Werkstatt und dem Garten, das reicht. Fürs Fleisch und Blut, fürs Gebären, fürs Großziehen, die Sauberkeit und den Dreck, für die Exkremente, die Tränen und den Schweiß waren immer die Frauen zuständig.“
Die Situation hatte sich für die Familie dadurch verschärft, daß die Mutter der patriarchalischen Verhältnisse überdrüssig wurde und nach Italien geflüchtet war. Am Ende wird sie von der Tochter sogar auf der Insel Sizilien besucht. Dort hofft sie auf einen Neuanfang. Klar ist, wer an ihre Stelle zu treten hat. „Wenn eine Frau ausfällt, muß die andere herhalten. So geht das Rezept zur alten und ewigen Suppe.“ Eine Zuspitzung erfährt die Vater-Tochter-Beziehung, als sich der Vater bei einem Axt-Unfall eine schwere Verletzung zuzieht. Julia wird hin und her gerissen zwischen der Verantwortung für die Familie und ihrem Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben und einer besseren Zukunft.
Immerhin ergeben sich neue Kontakte. Neben der alten Schulfreundin Bea begegnet Julia Oskar, dem Städter. Zwar haben beide Job und Liebesbeziehungen eingebüßt, dennoch ist ihre Lage sehr unterschiedlich. Julias neuer Bekannter kommt von auswärts und unterzieht sich einer längeren Reha-Maßnahme. Über Geld scheint er ausreichend zu verfügen. Er hat Zeit, ohne Druck über seine Zukunft nachzudenken und schmiedet Pläne. Vielleicht ist diese Verschiedenheit der Grund, warum aus den Gesprächen nicht recht hervorgeht, welche Art von Beziehung sich für die beiden ergibt. In gewisser Weise leben sie unverbindlich nebeneinander her – wie die meisten im Ort.
Die nüchtern-lakonische Sprache der Ich-Erzählerin entspricht der Realität, der Innenansicht einer normalen Frau, die ihrem Schicksal entrinnen will, aber gleichzeitig von den Umständen an ihrer Entfaltung gehindert wird. Weder übertriebener Altruismus und Fürsorge noch blanker Egoismus scheinen der Schlüssel zu einem erfüllten Leben zu sein. Immer wieder gibt es Lichtblicke, aber eindeutige Lösungen der Alltagssorgen zeichnen sich nicht ab. Das Leben scheint nichts Halbes und nichts Ganzes zu sein. Wenig Weißes, wenig Schwarzes. Meist überwiegt auf dem Alltagsgemälde die Farbe Grau, und überdies noch sehr unscharf. Nicht zufällig wird auf dem Umschlag des Buches angedeutet, daß zwei Personen nebeneinander herschwimmen. In der Tat: Alles plätschert dahin. Man meistert das Leben eher schlecht als gut.
Die Erzählung hält vieles in der Schwebe
Birnbacher gilt als gebildete Dichterin. Sie schreibt nicht einfach nieder, was ihr einfällt, sondern verhüllt die Wirklichkeit poetisch. Wichtige Anregungen hat sie von einer klassischen gesellschaftskritischen Studie erhalten. „Die Arbeitslosen von Marienthal“, in den 1930er Jahren von Paul Lazarsfeld, Marie Jahoda und dem Rechtswissenschaftler Hans Zeisel verfaßt, erforschte die sozialpsychologischen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit. Die Ergebnisse dieser Arbeit werden immer wieder bei der Beleuchtung vergleichbarer aktueller Vorgänge und Probleme herangezogen, so auch in dem österreichischen Fernsehfilm „Einstweilen wird es Mittag“ aus dem Jahre 1988, in dem Karin Brandauer Regie führte.
Da die Erzählung vieles in der Schwebe läßt, bleibt viel Raum für Fragen, die sich der Leser wohl auch stellen soll. Was geschieht mit Julia? Wird die Nähe zu Oskar enger und die Liebe für beide erfüllend? So tiefschürfend der Roman auch insgesamt zu bewerten ist: Den Beziehungen der Protagonisten mangelt es an Intensität. Als Julia ihre Mutter telefonisch über das Malheur des Vaters in Kenntnis setzt, antwortet diese lapidar: „Er wird jemanden brauchen.“ Wer aber ist „jemand“? Das bleibt offen, ebenso die Hoffnung, daß sich doch alles zum Guten wendet. Die wunderbare Schilderung alltäglicher Erlebnisse, Wünsche und Sehnsüchte, die uns Sinn und Halt geben, die aber in ihrer Ambivalenz ebenso trügerisch sein können, macht den gefeierten Roman zu einem besonderen Literaturereignis.
Birgit Birnbacher: Wovon wir leben. Roman. Paul Zsolnay Verlag, 4. Auflage, Wien 2023, gebunden, 192 Seiten, 24 Euro