Über das Heilige Lebensfeuer Roms wachten sittlich reine, ehrfurchtgebietende Priesterinnen, die Vestalinnen. Für das Lebensfeuer der Republik, die Heilige Flamme der Freiheit, fühlen sich heute Parteien, Politiker und deren Gehilfen in den Medien verantwortlich, die ihre Gefolgschaft mobilisieren, um die Freiheit, die sie meinen, zu schützen und Unheil von der Demokratie abzuwehren. Sie reden feierlich von „unserer Demokratie“ und erklären ihre Interpretation der bürgerlichen Freiheiten für sakrosankt und halten sich daher für berufen, jede davon abweichende Meinung zu verdammen. Wer es dennoch wagt, sich ihrem Anspruch auf allein selig machende Verkündigungshoheit zu entziehen, wird aus der Gemeinschaft der wahren Demokraten sofort verbannt.
Die Demokratie ist heutzutage keine Veranstaltung, die auf Diskussion beruht, dem unter Umständen leidenschaftlichen, auch kontroversen Austausch von Argumenten, wie früher einmal Gemeinschaftskundler beteuerten. Sich der einen heiligen und möglichst allgemeinen Kirche angleichend, ist die Demokratie zu einer Glaubensgemeinschaft geworden, in der Oberpriester mit dem Recht der Unfehlbarkeit in Fragen der demokratischen Offenbarung für Ruhe und Ordnung sorgen, damit keiner in Versuchung gerate, Irrlehrern zu folgen, und aufgrund seines schlechten Beispiels den inneren Frieden gefährde und nicht nur sein Seelenheil verwirke.
Gott zu lästern oder den Propheten zu verhöhnen, das gilt als Zeichen von Unerschrockenheit, die jeden aufrechten Streiter für die Freiheit auszeichnet. Einem Minister, gar der gesamten Regierung zu unterstellen, ihren Aufgaben nicht gewachsen zu sein, bringt einen solchen fanatischen Wirrkopf in den Verdacht, das Vertrauen in die Obrigkeit untergraben und „unsere Demokratie“ mit ihrem „Wahrheitssystem“ als Verantwortungsgemeinschaft aus dem Gleichgewicht bringen zu wollen. Majestätsbeleidigung begeht, wer die demokratische Majestät, die Regierung, „unsere Regierung“ in unserer Verfassungsordnung, nicht mit dem gebotenen Respekt behandelt. Das Neue Testament oder den Koran zu verbrennen, kann nicht verwerflich sein, da beide Bücher den Regenbogen völlig falsch verstehen.
Wer allerdings versucht, das Grundgesetz zu historisieren und als unvermeidliches Dokument seiner Entstehungszeit zu kritisieren, bestätigt, den Umsturz einer Heilsordnung zu planen und gibt sich als Verfassungsfeind zu erkennen. Ein solcher darf sich nicht wundern, wenn er offizieller Beobachtung unterliegt und vor allem gewissenhafte Verfassungspatrioten dazu nötigt, weil sie nicht wegschauen wollen und nichts überhören können, alles, was ihnen als verdächtig auffällt, Behörden zu melden und in die Öffentlichkeit zu tragen.
Keiner darf sich in der Gewißheit wiegen, seine Wohnung sei eine feste Burg, in der erbetene Gäste allemal willkommen sind, aber unbehelligt von Leuten zu bleiben, die mit allen möglichen, unstatthaften Mitteln auskundschaften wollen, was dort in privaten Räumen geschieht und den häuslichen Frieden verletzten. In einer Glaubensgemeinschaft kommt es auf Konformität an, auf die Gesinnungstüchtigkeit, weshalb eine Unterscheidung von privat und öffentlich entfallen muß, da alles politisch ist und deshalb von öffentlichem Interesse. Ungewöhnliche Gedanken dürfen nicht geheim bleiben. Gerade in eigenartigen und überraschenden Kombinationen von Menschen können Gefahren lauern, die von vornherein unterbunden werden müssen. Wenn drei und mehrere sich treffen, um gesellig beieinander zu sein, erwecken sie daher unweigerlich Argwohn.
Nichts fürchten Demokraten so sehr wie Verschwörer. Die Schreckensherrschaft der radikalen Volksfreunde in Frankreich 1793/94 veranschaulichte eindrucksvoll, wie sehr sich Terror und Demokratie ergänzen können. Das Mißtrauen und nicht das Vertrauen zeichnet den wehrhaften Demokraten aus; denn er rechnet mit der Schwäche der allzu menschlichen Menschen, mit Verrat, der Lüge und hinterhältigen Absichten, das gesellschaftliche und politische System zu delegitimieren, dessen Vertreter verächtlich zu machen und endlich die freiheitliche Grundordnung aufzuheben.
Die Kirche schützte sich mit der Inquisition, mit einer sehr aktiven Gedankenpolizei, vor möglichen gefährlichen Umtrieben. Für gefährlich schätzten deren Hüter des wahren Glaubens alles ein, was nicht vollkommen mit ihrem biblisch- kirchlichen „Verfassungspatriotismus“ übereinstimmte. Die Ämter für Verfassungsschutz, der jeweiligen Regierung als Heilsgarantin unterstellt, wirken in der Bundesrepublik wie einst das Sanctum Officium, die Heilige Behörde der Kirche. Schriftgelehrte, den Parteien und der Regierung nahe stehend, gewähren Handreichungen, wie die Verfassung gedeutet, gelebt und Mißverständnissen vorgebeugt werden muß, die nur Unordnung schaffen können. Viele Organisationen, gut alimentiert von Parteien und Regierungen, betätigen sich wie einst die Dominikaner, die schnüffelnden Hunde des Herren, aufmerksam und unermüdlich im Aufspüren besorgniserregender Elemente. War in gut katholischen Zeiten der schlimmste Vorwurf, gottlos oder atheistisch zu sein, so hat jetzt jede Nachsicht und Gnade eingebüßt, wer auch nur den Anschein erweckt, nicht tapfer und empört auf rechte Nachbarn und deren Vorstellungen sofort reagiert zu haben. Rechts ist wie die unverzeihliche Sünde in der Kirche, die Tod bewirkende Sünde wider den Geist, nun den alles heilenden Geist der Demokratie. Rechts ist die achte Todsünde.
Der Geist steht links. Doch wenn rechts unter Verbot gestellt und eliminiert werden soll, erübrigt sich links und jedes Pathos linker Befreiung aus Unmündigkeit und selbstverschuldeter Boshaftigkeit. Gibt es nur noch links, dann gibt es auch keine Mitte mehr, die zwischen rechts und links vermittelt, dann wird aber auch mit der unteren die obere Ordnung fragwürdig. Christus sitzt zur Rechten Gottes, die rechte Seite ist die ehrenvolle und gute Seite. Beim Jüngsten Gericht stehen die seligen Geister rechts und die verdammten Sünder links von Christus. Rechts hat es mit richtig und rechtschaffen, berechtigt und rechtmäßig zu tun, auch mit der Rechtgläubigkeit, also insgesamt mit dem Guten. Wer sich einem gegenüber links verhält, erweist sich als nicht vertrauenswürdig, als schädlich und mißgünstig, eben als linker, aber keineswegs als linkischer Kerl, da der linke, ungute Geselle ja wendig mit allerlei intriganten Methoden seine Interessen verfolgt.
In der christlichen Symbolik ist rechts mit der Unsterblichkeit und links mit der Sterblichkeit, der nicht Dauer verheißenden Hinfälligkeit unzulänglicher, irdischer Phänomene verbunden. Darüber sprechen deutsche Bischöfe oder Priester nur noch sehr ungern, die als politische Theologen in der demokratischen Welterlösungsbewegung unbedingt dabei sein möchten, auch wenn die meisten Demokraten auf diese „Adabeis“, wie man in München und Wien sagt, gar keinen besonderen Wert legen.
Die Linken geben sich als die richtigen, die notwendigen, guten Geister aus, berechtigt zur politischen und geistig-moralischen Führung. Klassische Linke können mit der für sie merkwürdigen neuen Linken wenig anfangen. Sie sind vertraut mit zahllosen, sogar linken Abweichungen von der reinen Lehre. Die Zwiste über das, was unter links zu verstehen ist, können indes hier vernachlässigt werden.
Die Mehrheit organisierter Demokraten kämpft gegen Rechts – mit fanatischer Energie, die einst Nationalsozialisten für ihre besondere Tugend hielten. Ihre Einheitsfront ist gar nicht so überraschend. In der westdeutschen Konsensdemokratie galt Opposition stets als anrüchig. Die dringendste Aufgabe für Demokraten nach dem Zusammenbruch Deutschlands bestand darin, den 30. Januar 1933 und die Machtergreifung Adolf Hitlers zu verhindern. Rückwärts gewandt wie sie waren, nahm der Widerstand gegen Hitler und den „Nazismus“ kontinuierlich zu. Die Deutschen sind in überwältigender Mehrheit bekennende und aktive Widerstandskämpfer, auch die sogenannten Rechten zum Ärger der wahren Demokraten, in deren Lager Rechte nichts zu suchen haben. Die demokratische Mehrheit will sich das Recht vorbehalten, zu bestimmen, wie die Mehrheit zu denken und aufzutreten hat. Die Konsensdemokratie besteht auf der von ihr verfügten einmütigen Gesinnung der Anständigen, die unerschütterlich im Glauben stehen und zusammenstehen im Einsatz für „unsere Demokratie“.
Parteilichkeit oder „Fraktionismus“ widerstrebt der wünschenswerten Gemeinsamkeit der Demokraten, übrigens ganz unabhängig von den deutschen Eigentümlichkeiten. Der französische Historiker und Soziologe Alexis de Tocqueville (1805–1859) schilderte mit erheblichem Unbehagen die Macht, welche die Mehrheit auf das Denken der Demokraten ausübt in seinem weiterhin unerschöpflichen Buch „Über die Demokratie in Amerika“ von 1835. Die Mehrheit umspanne in Amerika das Denken mit einem erschreckenden Ring. Innerhalb dessen Begrenzungen ist jeder frei, sobald er diese durchbricht, ist er allerdings vielen Verdrießlichkeiten und täglichen Verfolgungen ausgesetzt. Seine Tadler reden laut, und die Gleichgesinnten, aber nicht Gleichtapferen schweigen und entfernen sich.
Nach Tocqueville brauchen die modernen Tyrannen der Mehrheit in den demokratischen Republiken keine groben Werkzeuge, um sich lästiger Sonderlinge zu erwehren. Sie zielen nicht auf den Körper, sondern gleich auf die Seele. Sie sagen: „Du bist frei, nicht so zu denken, wie wir; du behältst dein Leben, deinen Besitz, alles; aber von dem Tag an bist du unter uns ein Fremdling. Du behältst deine Vorrechte in der bürgerlichen Gesellschaft, aber sie nützen dir nichts mehr; denn bewirbst du dich um die Stimme deiner Mitbürger, so werden sie dir diese nicht geben, und begehrst du bloß ihre Achtung, so werden sie tun, als ob sie dir auch diese verweigerten. Du bleibst unter den Menschen, aber du büßest deine Ansprüche auf Menschlichkeit ein. Näherst du dich deinen Mitmenschen, werden sie dich wie ein unreines Wesen fliehen; und selbst die an deine Unschuld glauben, werden dich verlassen, denn auch sie würden gemieden.“ Dein Leben bleibt dir, es wird aber für dich schlimmer sein als der Tod.
Die Vertreter der Mehrheit sitzen überall: in den Redaktionen, in Verlagen, Universitäten, Gerichten, Parlamenten, Regierungen und Stiftungen oder Kirchen. Wer von der Mehrheit nicht als Spielkamerad anerkannt und an den Rand gedrängt wird, kann nicht einmal in kleinsten Kreisen eine Gruppe um sich scharen, weil den Tyrannen der Mehrheit nichts verborgen bleiben darf.
Alles in der Welt als Geschichte ist veränderlich. Trotz zahlloser Machenschaften der demokratischen Tyrannen und der journalistischen Wirklichkeitsproduzenten in ihrem Dienst können sich Mehrheiten auflösen, wenn die Politiker und Orientierungshelfer das Vertrauen verlieren und „deren Demokratie“ als ein System miteinander verflochtener Interessenvertreter wahrgenommen wird. Es gibt keine Staats- oder Politikverdrossenheit, sondern einen Unmut über Politiker, die das gemeine Wohl mit dem Wohlergehen ihrer „Spezis“ verwechseln, die unglaubliche Karrieren machen, ohne etwas zu sein oder zu können. Die Mehrheit hat Angst, ihre Macht zu verlieren. Alles Neue gefällt, hieß es schon im finsteren Mittelalter. Und das gilt auch für die finstere allerneueste Neuzeit.
Dr. phil. Eberhard Straub, Jahrgang 1940, habilitierter Historiker, Publizist und Buchautor, war Feuilletonredakteur der FAZ und Pressereferent des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft. Heute lebt er als freier Journalist in Berlin.
Alexis de Tocqueville: Die Tyrannei der Mehrheit. Bibliothek der Reaction, Karolinger Verlag, Wien 2023, gebunden, 139 Seiten, 22 Euro