© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/24 / 02. Februar 2024

Im Nebel der versprochenen „Zeitenwende“
Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik: Der verheißene „Paradigmenwechsel“, den Kanzler Olaf Scholz vor zwei Jahren angekündigt hat, ist weitgehend ausgeblieben
Michael Wiesberg

Martin Bialecki, Chefredakteur der Zeitschrift Internationale Politik (IP), nahm im Vorwort der Sonderbeilage zum Thema  „Zukunft der Zeitenwende“ kein Blatt vor den Mund. „Manche Analyse, die in diesem IP Special der deutschen Außenpolitik den Spiegel vorhält, kritisiert sehr unverblümt deutsche Überheblichkeit und Wunschdenken.“ Starker Tobak in der von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) herausgegebenen Zeitschrift. Die DGAP wurde Mitte der 1950er Jahr in Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen Council on Foreign Relations und der privaten britischen Denkfabrik Chatham House gegründet. Die Ausrichtung der Zeitschrift ist diesem Hintergrund entprechend zumeist transatlantisch, was sich auch am Autorentableau der aktuellen Publikation ablesen läßt. „Querdenker“, die die bestehenden deutschen außen- und sicherheitspolitischen Narrative in Frage stellen, wird man hier vergeblich suchen. 

Zur Erinnerung: Drei Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 sprach Bundeskanzler Olaf Scholz in einer Regierungserklärung erstmals von einer „Zeitenwende“. Scholz kündigte unter anderem Waffenlieferungen an die Ukraine an, ein 100-Milliarden-Programm für die Bundeswehr und ein Umdenken in der Energiepolitik. Das Wort „Zeitenwende“ fiel fünfmal in seiner Rede. 

Benjamin Tallis, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Alfred von Oppenheim-Zentrum für Europäische Zukunftsfragen und Leiter des Projekts „Aktionswerkstatt Zeitenwende“, setzt sich in seinem Beitrag der IP-Sonderausgabe zunächst mit der deutschen Energiepolitik auseinander und kritisiert, daß es Deutschland wagte, energiepolitisch mit dem Bau von Nord Stream 2 politisch Eigensinn zu zeigen. Der russische Angriff auf die Ukraine habe der deutschen Politik aber nun „endlich die Augen geöffnet“. Hierzu gehört aus seiner Sicht auch die Einsicht in die Notwendigkeit, aus dem russischen Gas auszusteigen. Allerdings sieht Tallis gleich eine neue Abhängigkeit, die mit den beiden Hauptquellen erneuerbarer Energie, Wind und Sonne, zusammenhängt. Hier sei man auf Materialien und Technologien aus China angewiesen, was einem „erheblichen geopolitischen Risiko“ unterliege. Die Bundesregierung habe deshalb beschlossen, auf die „umweltschädliche Kohleverstromung“ zurückzugreifen; richtig wäre es gewesen, die Entscheidung, aus dem Atomstrom auszusteigen, zu revidieren. 

Dieser Beschluß konnte allerdings nicht den Verdacht ausräumen, daß „manche Leute in Berlin“ und in der Großindustrie „nur zu gern zu den russischen Fossilbrennstoffen zurückkehren möchten“. Damit werde die Sorge genährt, daß Deutschland immer noch seinen früheren „(geo)ökonomischen Überzeugungen“ und damit der Maxime „Wandel durch Handel“ anhängt. Tallis kritisiert weiter, Deutschland sei trotz der „Zeitenwende“-Rede des Bundeskanzlers „nicht bereit“, „Sicherheitsgarant für Europa“ zu werden oder seiner „besonderen Verantwortung für die europäische Sicherheit gerecht zu werden“. Er moniert, daß das Kanzleramt den Anschein erwecke, den „geopolitischen Sturm“ einfach „aussitzen zu können“ und daß ein großer Teil des „alten Systems“, von dem Deutschland „so sehr profitiert“ habe, erhalten werden könnte. 

Worum es Tallis tatsächlich geht, macht der Blick auf den Ukrainekrieg deutlich. Diejenigen, die den „Wandel“ verschleppten, begriffen nicht die Gefahr, daß die Ukraine den Krieg womöglich nicht vollständig gewönne und Rußland auf diese Weise „belohnt“ würde. Das bedeutet mit anderen Worten, daß Deutschland seine Anstrengungen zur Unterstützung der Ukraine erhöhen soll. Tallis kritisiert, daß Deutschland keine „klare geopolitische Strategie“ besitze; hier habe auch die im Juni 2023 verabschiedete erste Nationale Sicherheitsstrategie keine Abhilfe geschaffen. Das verunsichere die deutschen Bündnispartner und erschwere eine „wirkungsvolle Teamarbeit“. Es gelte zu begreifen, daß es Konflikte gebe, die gewonnen und nicht nur gemanagt werden müssen. 

„Deutschland muß lernen, Machtpolitik zu betreiben“

Daß ein „Paradigmenwechsel“ in der deutschen Außenpolitik noch nicht stattgefunden habe, bemängelt auch Ulrich Speck, „Nonresident Fellow“ am German Marshall Fund of the United States. Er sieht einen Dissens zwischen dem Bundeskanzler und der Bundesaußenministerin. Scholz habe festgestellt, daß die Aufgabe der Politik darin bestehe, in „der multipolaren Welt den Multilateralismus zu bewahren“, worunter er eine Ordnung versteht, in der ganz „unterschiedliche Machtzentren“ im Interesse aller zusammenarbeiteten. Die grüne Außenministerin Baerbock hingegen ist der Auffassung, daß China und Rußland die internationalen Regeln nicht mehr zur Gänze teilten, weshalb sich die Demokratien in einem „Systemwettstreit“ mit „autokratischen Kräften“ befänden. 

Speck schlägt sich auf die Seite der Außenministerin, wenn er feststellt, daß die „liberale Ordnung“ von „mächtigen Autokratien“ „grundsätzlich herausgefordert“ werde. Peking und Moskau gehe es um eine „Neuordnung der Welt nach Prinzipien“, die den Interessen der dortigen „autokratischen Regimes“ entsprächen. Vor diesem Hintergrund skizziert Speck Kriterien, an denen der „Paradigmenwechsel“ der „Zeitenwende“ festzumachen ist. Die derzeitigen globalen Spannungen und Konflikte (Ukraine, Nahost, Indo-Pazifik) seien „Teil einer Gesamtherausforderung“ der liberal-demokratischen Ordnung durch autokratische Mächte. Das sei der „Kern der Zeitenwende“. Zweitens gehe es um die Einsicht, daß Globalisierung gemeinsam mit „autokratischen Herausforderungen“ nicht mehr funktioniere. Und schließlich müsse Deutschland lernen, „Machtpolitik“ zu betreiben, was bisher den USA überlassen wurde. Dazu bedürfe es des Aufbaus militärischer Macht. Dieser „Paradigmenwechsel“ sei zwar in Konturen erkennbar; es dominiere aber noch zu sehr die „vermeintliche Sicherheit“ des „Weiter so“, kritisiert Speck.

Die Bundestagsabgeordnete Serap Güler (CDU), Mitglied im Verteidigungsausschuß, macht sich für eine Stärkung der „gesellschaftlichen Resilienz“ stark und sieht in einem „sozialen Gesellschaftsjahr“ für alle Schulabgänger in Deutschland, unabhängig von Geschlecht und Staatsbürgerschaft, ein „entscheidendes Puzzlestück“, um dieses Ziel zu erreichen. Sie sieht in diesem „Gesellschaftsjahr“ ein Instrument, um der „Spaltung der Gesellschaft“ entgegenzuwirken. 

Jörg Lau, außenpolitischer Korrespondent der Wochenzeitung Die Zeit, diskutiert die Alternativen „werte-“ oder „interessegeleitete Außenpolitik“ und läßt keinen Zweifel daran aufkommen, daß seine Präferenz auf einer wertebasierten Außenpolitik liegt. Die „Verteidigung von Menschen- und Bürgerrechten, von internationalen Normen“, sei „Kerninteresse deutscher Außenpolitik“. Dabei nimmt er eine klare Feindmarkierung vor: In der Innen- und Außenpolitik seien heute jene Akteure die „größte Herausforderung“, die ihr „Handeln auf die Zerstörung der bestehenden Ordnung“ ausrichteten. Die angebliche Allianz „autoritärer Kräfte“ in den westlichen Demokratien mit autokratischen Mächten wie China oder Rußland, die von den US-Republikanern bis hin zur AfD reichen soll, sei kein „Zufall“. Daher sei das „wahre Problem“ nicht das „arrogante Missionieren und Belehren“ à la Baerbock , sondern die „Verteidigung einer wertebasierten Politik“.  

„Moralische Unbedingtheiten“ gehören nicht in die Politik

Auch Sara Nanni, die sicherheitspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der Grünen, sieht einen „Systemkonflikt“ zwischen Autoritarismus und Demokratie, den sie neben der Klimakrise als größte Herausforderung markiert. Sie prangert an, daß Rußland seit Jahren rechtspopulistische Bewegungen fördere, weil diese den „Zusammenhalt in Europa“ gefährdeten. Ihre Hauptaufmerksamkeit gilt aber dem neuen Zauberwort der Außen- und Sicherheitspolitik, der „integrierten Sicherheitspolitik“. „Integrierte Sicherheit“ für Deutschland habe laut Nationaler Sicherheitsstrategie drei Schwerpunkte, nämlich Wehrhaftigkeit, Resilienz und Nachhaltigkeit. Die Strategie verknüpfe die „ganze Bandbreite von Bedrohungen und Verwundbarkeiten“ und verstehe Sicherheit als „gesamtgesellschaftliche Aufgabe“ im nationalen und internationalen Rahmen. Wichtig sei es, die integrierte Sicherheitspolitik zu leben und „Silodenken“ und „Ressortgrenzen“ zu überwinden. 

Anna Sauerbrey, die Koordinatorin Außenpolitik der Zeit – dieser Wochenzeitung wird offenbar eine besondere Expertise im Hinblick auf die „Politik der Zeitenwende“ zugeschrieben –, trägt in ihrem Beitrag noch einige Gedanken zum angeblich „blinden Fleck Kolonialgeschichte“ bei und dazu, daß es Deutschland bisher versäumt haben soll, sich seiner Geschichte als Kolonialmacht in Afrika und Asien zu stellen. Sie stellt fest, daß „postkoloniale Narrative“ eine „immer größere Rolle spielen“. Im gleichen Maße und auch vor dem Hintergrund der „Hinwendung zum Globalen Süden“ werde die „deutsche Kolonialschuld“ „relevanter für die Außenbeziehungen“. Diesem Schuldvorwurf, der darin gipfelt, daß der Wohlstand des Westens auf der Ausbeutung der Kolonien basieren soll, begegnet die deutsche Außenpolitik mehr oder weniger affirmativ, wie das Beispiel der bedingungslosen Verschenkung der Benin-Bronzen aus deutschen Museumssammlungen an Nigeria zeigt. Daß dieser Schuldvorwurf an die Adresse der ehemaligen europäischen Kolonialstaaten viele Jahre nach dem Ende der Kolonialherrschaft von korrupten Eliten und dysfunktionaler Verwaltung in etlichen ehemaligen Kolonien ablenkt, thematisiert Sauerbrey bezeichnenderweise nicht, wohl aber, daß Rußland versuche, die „postkoloniale Wut“ anzustacheln. 

Diese „postkoloniale Wut“ ist, und hierin ist dem Philosophen Rudolf Brandner zu folgen, auch eine Volte darauf, wie der Menschenrechtsdiskurs unter westlicher Führung zu einem „moralistischen Universalismus“ erhoben und zum „transnationalen Katechismus einer vereinheitlichten Staatstheorie“ entwickelt wird, an deren Ende sich die „Global Governance supranationaler Organisationen“ abzeichnet. Eine „Politik der Zeitenwende“, die diesen Namen wirklich verdient, müßte genau hier ansetzen: „Moralische Unbedingtheiten“ (Brandner) – nun auch noch als „feministische Außenpolitik“ drapiert – gehören nicht in das Terrain der Politik. Sich hiervon zu verabschieden, wäre der erste entscheidende Schritt einer wirklichen „Politik der Zeitenwende“.