Nun kann niemand mehr leichtfertig sagen, sexueller Mißbrauch in der Kirche sei einzig ein katholisches Problem; diese Illusion ist seit Donnerstag vergangener Woche nicht mehr zu halten. Es war ein rabenschwarzer Tag für die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), als in Hannover die 800 Seiten lange Studie über Mißbrauchsfälle vorgestellt wurde. Kirsten Fehrs, die amtierende EKD-Ratsvorsitzende, gestand, „erschüttert“ zu sein: „Klar ist: Wir haben Täter schützende Strukturen in der Kirche. Es sind keine Einzelfälle.“
Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen haben für die „Forum-Studie“ sexuelle Übergriffe auf Kinder und Jugendliche in kirchlichen Einrichtungen und in der Diakonie im Zeitraum von 1946 bis 2020 untersucht. Sie ermittelten 1.259 Beschuldigte und 2.225 Fälle mit mehr als 9.000 minderjährigen Opfern. In der vergleichbaren katholischen Studie von 2018 war von 1.670 mutmaßlichen Tätern und 3.677 Opfern die Rede. Es gibt allerdings einen gravierenden Unterschied. Die Katholiken hatten viel mehr Akten herangezogen. „Offenbar war die EKD nicht bereit oder in der Lage, umfassenden Zugang zu den Personalakten zu gewähren“, rügte die Betroffeneninitiative „Eckiger Tisch“.
Experten kritisieren lückenhafte Datenbasis
Die „Forum“-Forscher untersuchten insgesamt 4.282 Disziplinarakten, 780 Personalakten und 1.318 weitere Unterlagen. Die katholische Seite hatte sich seinerzeit mehr als 38.000 Personal- und Handakten angesehen, denn solche Dokumente können Hinweise auf Straftaten, aber auch auf Vertuschungsversuche geben. Zwei Fünftel der beschuldigten Protestanten waren „Pfarrpersonen“, die meisten (99,6 Prozent) Männer. Mehr als zwei Drittel von ihnen waren verheiratet. Das könnte, folgerte der Spiegel, ein Hinweis darauf sein, daß die Verpflichtung der katholischen Priester zu sexueller Enthaltsamkeit möglicherweise „gar keine so große Rolle“ bei Mißbrauch spielt wie oft angenommen. Eine weitere Ähnlichkeit: Auch in den evangelischen Einrichtungen waren die Opfer mehrheitlich männlich (65 Prozent) und zu rund 35 weiblich.
Die Autoren der „Forum“-Studie nennen ihre Erhebung eine „sehr selektive Stichprobe“, es gebe noch eine hohe Dunkelziffer. Dieser Meinung ist auch der forensische Psychiater Harald Dreßing. Wegen der „sehr schleppenden Zuarbeit“ der Kirche habe die Studie, für die die EKD 3,6 Millionen Euro ausgegeben hat, eine lückenhafte Datenbasis. Diese Meinung stützt offenbar auch Bischöfin Fehrs. Beim Umgang mit den Fragebogen der Forscher zu den Personalakten habe es in den Landeskirchen „ein unglückliches Nicht-Können“ gegeben.
Eine leicht zu erklärende Kritik: Wenn die Personalakten – wie im Forschungsdesign vorgesehen – zur Verfügung gestellt worden wären, hätte man eine wesentlich höhere Zahl an Fällen ermitteln können. Die EKD sei mit dem Versprechen angetreten, noch mehr aufzuklären als die katholische Kirche. „Mit den uns zur Verfügung gestellten Ressourcen und dem Arbeitstempo ist das letztlich nicht gelungen“, so die Forscher. Sie erhielten nur wenige tausend Disziplinarakten, obwohl vorab anderes vereinbart worden war. Für den Leiter des Forschungsverbunds, Martin Wazlawik, ist deshalb das, was als gesichert gelten könne, „nur die Spitze des Eisbergs“. Wazlawiks Befund: Im Vergleich mit der katholischen Kirche legten die Daten „in keiner Weise eine geringere Zahl an Beschuldigten in der EKD und der Diakonie nahe“.
Detlev Zander, Mitglied des Betroffenenbeirats der EKD, meint: „Wer jetzt den Schuß noch nicht gehört hat, in den Kirchen und in den diakonischen Einrichtungen, der muß sich wirklich fragen, ob er in Kirche und Diakonie richtig am Platz ist.“ Die Studie müsse grundlegende Veränderungen schaffen, forderte er: „Der Föderalismus in der evangelischen Kirche ist ein Grundpfeiler für sexualisierte Gewalt.“ Er verhindere Aufklärung und Aufarbeitung. Neben dem unübersichtlichen Föderalismus wird das progressive Selbstverständnis des Protestantismus als Risikofaktor angeführt. Unterdessen hat sich auch die Politik eingeschaltet: Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) kündigte an, das Amt der unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmißbrauchs und die Arbeit der unabhängigen Aufarbeitungskommission dauerhaft gesetzlich absichern zu wollen.
Die floskelhaften Reaktionen der leitenden Geistlichen ließen Zweifel aufkommen, daß sie den Ernst der Lage erkannt hätten. Die EKD hat ohnehin an einer schweren Last zu tragen. Etwa an ihrer einst unkritischen Haltung gegenüber dem 2008 verstorbenen Sexualwissenschaftler Helmut Kentler, der für die „sexuelle Befreiung“ stritt und „Experimente“ initiierte, bei denen er sozial auffällige Jugendliche in die Obhut von Pädophilen gab. Kentler arbeitete in kirchlichen Akademien und publizierte in evangelischen Medien, immer wieder wurde er zu Kirchentagen eingeladen. Er galt als „Star“ der Sexualerziehung. Heute blickt man allerdings auch in protestantischen Kreisen kritisch auf die jahrelange Kooperation mit dem umstrittenen Wissenschaftler.
Bischöfin Kirsten Fehrs gesteht: „Ich gehöre ja auch in die Generation derer, die diese reformpädagogischen Ansätze großartig fanden und mit dem Blick jetzt zurückgucken und sagen: Was gab es für eine Kultur der Grenzverachtung dabei, weil Freiheit gleichgesetzt wurde mit Grenzenlosigkeit, und daß wir an dieser Stelle als Kirche auch einen blinden Fleck hatten. Dazu müssen wir stehen und auch eine Verantwortung übernehmen.“