Die „Schweigespirale“ galt in den 1970ern als dahingehend politisiert, daß sie das Ausbleiben von CDU-Wahlerfolgen massenmedialer Berichterstattung zuschreiben wolle. Unter anderen politischen Vorzeichen vollzieht sich jetzt Ähnliches mit ihrem Spiegelbild, der Theorie der „Redespirale“. Worum geht es jeweils?
Was die Leute im Land über die Meinungen der anderen im Land wissen, verdanken sie gewiß nicht Gesprächen mit allen anderen, sondern dem, was die Medien über entsprechende Meinungsverteilungen berichten. Aus den Medien erfährt man auch, welche Meinung als unumstritten oder und mehrheitlich geteilt gilt, welche andere aber als umstritten oder als reine Minderheitsmeinung. Wer nun den Eindruck hat, im bestehenden „Meinungsklima“ gelte seine eigene Meinung unumstritten als gut und werde auch mehrheitlich vertreten, der wird gern auch vor anderen sagen, was er wirklich denkt. Widerspruch wird er dabei als vernachlässigbare Einzelmeinung abtun, doch kaum als Hinweis auf Mängel im doch mehrheitlich Mitgemeinten ernstnehmen.
Wenn Leute hingegen den Eindruck haben, mit ihrer Meinung wären sie in der Minderheit oder würden so angesehen, als befänden sie sich mit ihr sogar in schlechter Gesellschaft, dann beschweigen sie diese Meinung lieber oder heucheln, als sich durch Äußerungen angreifbar zu machen. Die uns umgebende „öffentliche Meinung“ ist gleichsam unsere „soziale Haut“, in der wir uns möglichst wohlfühlen wollen.
Sobald nun aber tonangebende Journalisten, ihrerseits in Deutschland oft Linksgrün-Wokes bevorzugend, nur eine von mehreren Meinungsmöglichkeiten als mehrheitlich gehegt oder zumindest als mehrheitlich hinnehmbar darstellen, wird die unmittelbare Folge sein, daß als problematisch ausgegebene Minderheitsmeinungen in der Öffentlichkeit seltener vertreten werden. Weil wenige Lust darauf haben, sich zu isolieren, kann in öffentlichen Debatten sogar die reale Mehrheitsmeinung wie eine Minderheitsmeinung wirken, solange medialer Meinungsdruck von ihrer Äußerung abrät. Zur mittelbaren Folge wird dann, daß nicht wenige, die ihre Meinung bislang still für sich behalten haben, alsbald darüber nachdenken, ob ihre Meinung wirklich haltbar ist.
Und da es oft als unwahrscheinlich gilt, daß so viele andere sich irrten, während man selbst recht habe, verändern immer mehr Leute ihre vermeintliche Minderheitsmeinung hin zur in der Öffentlichkeit präsenten Mehrheitsmeinung. Auf diese Weise paßt sich im Lauf der Zeit die reale Meinungsverteilung jener Meinungsverteilung an, die zunächst nur medial als bestehend dargestellt wurde. Wird anschließend, und dann durchaus wahrheitsgemäß, über diesen Meinungswandel berichtet, so beschleunigt das nur jenen „Spiralprozeß“, in dem Journalisten von Anfang an nicht nur Beobachter, sondern wirklichkeitsprägende Mitakteure waren.
Nicht nur am Fall der deutschen Meinungsänderung hinsichtlich der Nutzung von Kernenergie wurde diese Wirkungsweise der „Schweigespirale“ empirisch nachgewiesen. Sondern beim „Kampf gegen Rechts“ wurden von Deutschlands Journalisten, deren Mehrheit nachweislich mit Linksgrün sympathisiert, solche Schweigespiralen auch bewußt herbeizuführen versucht. So geschah es immer, wenn eine wünschenswerte Nicht-Einladung von AfD-Teilnehmern an öffentlichen Diskussionen zum Thema wurde, desgleichen die Verhinderung von Auftritten „rechtslastiger“ Politiker und Wissenschaftler.
Und so geschieht es weiterhin, wo Lesern und Hörern eingeschärft wird, Rechtspopulisten dürfe man „keine Plattform bieten“, weil es jeder „Verschiebung der Grenzen des Sagbaren“ zu wehren gelte. Auch die Renommierformeln vom „de-platforming“ und von wünschenswerter „cancel culture“ im Dienst „politisch korrekter“ Diskurskultur bezeichnen die erwünschte praktisch-politische Nutzung von absichtlich herbeigeführten Schweigespiralen.
Doch natürlich funktioniert der psychische, soziale und kommunikative Mechanismus der Schweigespirale auch andersherum. Dann entsteht eine „Redespirale“. Mediale Berichterstattung – garniert mit zum Meinungsklima anschlußfähigen „Narrativen“ – kann in einem ersten Schritt sogar Nicht-Ereignisse zu Themen öffentlicher Erörterung machen.
Damit erwarb sich der mehrfach preisgekrönte Journalist Claas Relotius einst seinen Ruhm. Ebenso kann man reale Ereignisse anders aussehen lassen, als sie nachweislich waren. Auf diese Weise prägt man öffentliche Debatten samt dem in ihnen fühlbaren Meinungsklima so, daß die Verbreitung erwünschter Meinungen und Handlungsbereitschaften gefördert wird. Etwa wurden aus Chemnitzer Protesten gegen einen Mord, den ein Nicht-Deutscher begangen hatte, glasklare „Hetzjagden auf Ausländer“, aus der operettenhaften Verschwörung von Reichsbürgern ein gerade noch abgewehrter Putsch.
Nicht zuletzt kann man bereits jene Begriffe unbenutzbar machen, die andernfalls für die Beschreibung realer Vorgänge hilfreich wären. Jene Folgen für die Zusammensetzung unserer Gesellschaft, welche die verbreitete Kinderlosigkeit der obendrein alternden Deutschen zeitigt, darf man auch in Verbindung mit dem unsere Grundschulen prägenden Kinderreichtum eingewanderter Familien keineswegs eine „Umvolkung“ nennen. Und die Rückwanderung nicht bleibeberechtigter Zuwanderer nur dann „Remigration“, wenn man sich anschließend in die Tradition der Wannsee-Konferenz stellen lassen will.
In jenen Fällen war eine „Politik der Redespirale“ erfolgreich. Sie gelingt aber nicht immer. Die Pegida-Proteste konnte man noch gut als rechtsextrem unterwandert darstellen. Bei den Corona-Demonstrationen gelang das schon weniger – und bei den jüngsten Bauernprotesten überhaupt nicht. Anders als „radikale Konstruktivisten“ das einreden wollen, besteht eben auch die soziale Wirklichkeit aus viel mehr als nur dem Gerede über sie – oder aus dem Beschweigen dessen, wovon man wünscht, daß es nicht der Fall sei.
Prof. Werner J. Patzelt ist emeritierter Lehrstuhlinhaber für Politikwissenschaft an der TU Dresden.