Bereits vor über zwanzig Jahren demonstrierte Rußlands Präsident Wladimir Putin sein ganz eigentümliches Interesse an Geschichte. Im November 2003 rief er Historiker seines Landes dazu auf, in Schulbüchern nur solche Fakten darzulegen, die „bei jungen Menschen Stolz auf ihr Land wecken“. Anfänglich griff die Erinnerung auf die „goldene“ Zarenzeit aus, der Gründer von Putins Heimatstadt Peter der Große wurde in schillerndsten Farben präsentiert, die Ehrengarde im Kreml erinnerte plötzlich mit ihren Uniformen und Tschakos an die glorreichen Siege General Kutusows gegen die napoleonische Usurpation, und ein hollywood-reifes Filmspektakel setzte 2008 dem „Admiral“, gemeint war damit der „Konterrevolutionär“ Alexander Koltschak im Bürgerkrieg gegen die Roten, ein publikumswirksames Denkmal.
Doch wie der liberale russische Dissident Nikolai Epplée resümiert, konnten Rußlands Historiker bald nur noch „ohnmächtig zuschauen, wie sich ihr Forschungsgebiet als mächtige Ressource für die Konstruktion von ‘Geschichtspolitik’ erweist“. Das zeigte sich besonders in der Rezeption der opferreichen Zeit unter dem Kommunismus, die Epplée im ersten Teil des Buches rekapituliert. Dort „führt die Erinnerung an die Vergangenheit ein Eigenleben, nährt sich von Traumata, Wahnvorstellungen und Phobien und zeigt an Fakten kaum Interesse“. So nimmt es nicht wunder, daß selbst Stalin mit seiner von terroristischen „Säuberungen“, Völkermord und der millionenfachen Gulag-Tortur geprägten Diktatur wieder breiten Raum in der Gesellschaft findet. Hinter dem „Ruhm und der Ehre“ des Siegers im „Großen Vaterländischen Krieg“ – bei dem, darauf weist Epplée explizit hin, der Staat keinerlei Rücksicht auf die Zahl der Opfer unter den eigenen Bürgern nahm – soll sein Unrechtsregime verblassen. So will es der frühere KGB-Agent und heute in sowjetischer Nostalgie schwelgende Staatsführer Putin, erst recht in kriegerischen Zeiten von „Spezialoperationen“ wie nach dem 24. Februar 2022.
Fast als logisch ist in diesem Zusammenhang das Verbot der Menschenrechtsorganisation „Memorial“ im Dezember 2021 zu deuten, die daran arbeitete, die vielen Millionen Opfer in der Sowjetunion dem Vergessen zu entreißen und ihre Schicksale aufzuarbeiten. Noch 2011 arbeitete eine dem russischen Präsidenten unterstellte Historikergruppe zusammen mit „Memorial“ an einem Konzept „zur Wahrung des Gedenkens an die Opfer des totalitären Regimes und zur nationalen Aussöhnung“. Doch Stimmen wie jene des putintreuen Falken Alexei Puschkow, der seinerzeit davor warnte, daß dieser „ideologische Bürgerkrieg“ Rußlands Rolle in der Welt schwächen würde, gewannen rasch Oberwasser. Die Aufarbeitung der Verbrechen des Stalinismus dürfe „nicht als Vorwand dienen, aus Rußland eine Unteroffizierswitwe zu machen, die sich wieder einmal hingebungsvoll selbst geißelt“, polemisierte Puschkow.
Nikolai Epplée, dessen russische Ausgabe dieses Werkes 2020 erschien und auch in seiner Heimat rezepiert wurde, sieht den Weg in Moskau heute fortschreitend, „Geschichte durch Fälschungen und propagandistische Manipulationen“ zu verdrehen. Soviel kann der Autor der ein Jahr nach Beginn des Ukraine-Kriegs veröffentlichen deutschen Übersetzung voranstellen. Eine historische Aufarbeitung, die der mittlerweile außerhalb der Reichweite Putins im Ausland lebende Epplée anhand einiger Exkurse aus Deutschland, „wo die maßgeblichen Kategorien für den weltweiten Diskurs über die Vergangenheitsbewältigung formuliert worden sind“, der Postapartheid-Gesellschaft in Südafrika oder Argentinien nach der Militärdiktatur darstellt, sieht er in Rußland in weite Ferne gerückt. Dort werde momentan – im Gegenteil – alles andere als an einer Reduzierung des nationalen Schuldkontos gearbeitet. Er sieht sogar in der Anknüpfung an das imperiale und koloniale Erbe des Stalinismus „praktisch das Schlüsselproblem“ im heutigen Aggressorstaat.