In schöner Eintracht gefielen sich Literaturkritiker und Germanisten lange darin, die tiefe Zäsur, die der Erste Weltkrieg für Leben und Werk des am 1. Februar 1874 geborenen Hugo Laurenz August Hofmann, Edler von Hofmanns-thal, bedeutete, zu ignorieren. Bis in die 1950er hinein pappte ihr Etikett vom „dekadenten Ästheten“, „frühgereift und zart und traurig“, dem Wiener Patriziersohn reinsten Gepräges an. Hermann Bahr, einer der Förderer des schon kurz nach der Matura mit schwermütigen lyrischen Dramen („Tod des Tizian“ (1892) zu Ruhm gelangten Abkömmlings assimilierter jüdischer Großbürger, habe es sogar, wie er in seinen Memoiren gesteht, seinem Protegé nie verziehen, daß der nicht mit zwanzig Jahren starb, um als frühvollendetes Genie „die schönste Gestalt der Weltliteratur“ abzugeben.
Obwohl der frühe Hofmannsthal dann sukzessive mit der Hinwendung zu antiken Stoffen, mit den Erfolgen als Erzähler, Komödienschreiber und nicht zuletzt als Liberettist von Richard Strauss („Der Rosenkavalier“, 1911) das L’art pour l’art- Odium des lebensfernen Jugendstilkünstlers von sich abtat, befreite ihn nicht einmal sein ultimativer „Durchbruch zur Wirklichkeit“, der spätestens ab 1915 in seiner Kriegspublizistik unübersehbar war, vom beharrlich gepflegten, mitunter antijüdisch konnotierten Vorurteil über seine zwar virtuose, aber hohle Artistik. Mit eben dieser Begründung, Hofmannsthals Œuvre sei nach dieser Frühphase unverändert geprägt von einer an Nihilismus grenzenden dekadenten Mischung aus „Schrecken und Erotik“, lehnte es das schwedische Nobelpreiskomitee bis zu dessen Tod im Juli 1929 nicht weniger als vier Mal ab, den inzwischen von seinen Anfängen meilenweit entfernten Autor auszuzeichnen.
Für die deutsche Hofmannsthal-Rezeption verschob erst Hermann Rudolphs Monographie „Kulturkritik und konservative Revolution“ (1971) das Schwergewicht der Bewertung weg vom neuromantisch-symbolistischen Früh-, hin zum während des Weltkriegs einsetzenden kulturkritisch-essayistischen Spätwerk. Derart den Primat des Poetischen durch den des Politischen ablösend, präsentierte Rudolph den Dichter erstmals umfassend als „Statthalter konservativer Gesinnung“. Dessen Rang, über seine literarische Produktion im engeren Sinne hinausgehend, durch die gesellschaftliche, kulturelle und politische Relevanz seines Denkens bestimmt werde. Hofmannsthals Bedeutung sei, so Rudolphs von einer sehr vitalen Forschung mittlerweile bestätigte These, liege vornehmlich darin, daß er in einer Epoche multipler geistiger und sozioökonomischer Krisen, die vor allem die Kriegsverlierer Deutschland und Österreich erschütterten, das „Binden, Verbinden und Bewahren“ als Aufgabe des Intellektuellen begriff. Als Praeceptor germaniae habe er daher versucht, den Fundus der geistig-kulturellen Überlieferung als bildenden und verpflichtenden Zusammenhang, als „geistige Wirklichkeit“ und „Gegenstand der Verantwortung“ zu vermitteln.
Das geistige Medium eines Volkes hält die Gesellschaft zusammen
In diesem zeithistorischen Bezug ist denn auch seine legendäre, im Januar 1927 in der Münchner Universität gehaltene Rede über „Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation“ zu sehen, die in der Verheißung einer unaufhaltsamen „konservativen Revolution“ mündet. Hofmannsthal ist nicht der Erfinder dieser Formel, die begriffsgeschichtlich bis zum jungen Friedrich Engels zurückzuverfolgen ist, der den polnischen Aufstand von 1830 wegen der Führungsrolle, die die Aristokratie dabei spielte, bereits 1846 als „konservative Revolution“ klassifizierte. Doch die eigentliche Einbürgerung in die deutsche politische Ideenwelt datiert von dieser prägnanten Rede Hofmannsthals her.
Die Antwort zu geben versucht auf eine zentrale, die Herrschenden der „bunten“ Berliner Republik derzeit genauso wie ihre Vorgänger im fragmentierten Weimarer Vielparteienstaat und im ebensowenig monolithischen Bismarckreich umtreibende Frage: Was hält eine Gesellschaft unter den Bedingungen des modernen Pluralismus der Weltanschauungen, der Relativität von Normen und Werten zusammen? Hofmannsthal Rede verhandelt also das fundamentale Problem politischer Einheitsbildung. Und gibt darauf eine scheinbar einfache Antwort: es ist die Sprache, das geistige Medium eines Volkes. Sprache sei etwas anderes als bloßes Kommunikationsmittel, denn sie knüpfe jenes „unzerreißbare Gewebe“ einer „ganzheitlichen“ geistigen Traditions- und Glaubensgemeinschaft, einer Einheit in Vielfalt. Leben ohne Identität stiftende geistige Bindungen und „geglaubte Ganzheit“ zu leben sei unmöglich. Als Vorbild dafür dient dem promovierten Romanisten Hofmannsthal Frankreich. Beim westlichen Nachbarn, behauptet er im idealisierenden Überschwang, bewahre Sprache das kulturelle Erbe von zwölf Generationen. Jedem Lehrer sei es daher so präsent daß er sich als Gefährte Montaignes und Voltaires fühlen dürfe. Mit der Betonung der Bindungskraft solcher „Geschlechterfolge“ erweist Hofmannsthal dem Spiritus Rector seiner Rede, dem seit 1925 in Königsberg lehrenden, aus Nordböhmen stammenden Literaturhistoriker Josef Nadler Reverenz. Dessen vierbändige „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ weist die ethnische Homogenität eines Großkollektivs als notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung für eine stabile Kultur aus.
Ohne die kontinuierliche, in Schule und Universität zu vermittelnde Aneignung des, wie der Redner hofft, sogar Entfremdung und Verdinglichung kapitalistischer Klassengesellschaften kompensierenden christlich-humanistischen Bildungskanons lasse sich keine krisenfeste „wahre Nation“ gründen. Und auch kein föderales Europa bauen, sofern es ein geistig-seelischer Raum sein solle und kein „einheitliches Zivilisationsgebiet“ zum regulierten Austausch von Waren.