Franz Lang, so nannte er sich, nachdem er sich im Mai 1945 über die „Rattenlinie Nord“ nach Flensburg davongemacht hatte. Seine Frau und die fünf Kinder hatte er in einem Nest im schleswig-holsteinischen Dithmarschen in Sicherheit gebracht. Er selbst tauchte mit neuen Papieren als angeblicher Maat der Marine auf einem Bauernhof unter. Dort wurde er nach einem halben Jahr vom War Crimes Investigation Team aufgespürt und wenig später nach Nürnberg zum Prozeß überstellt. Als Hauptkriegsverbrecher wurde er allerdings nicht geführt. Er trat nicht als Angeklagter, sondern als Zeuge der Verteidigung auf.
Dabei war dieser gewissenhafte Handlanger des Todes einer der größten Verbrecher des 20. Jahrhunderts. Er war kein Schreibtischtäter wie Heydrich, auch kein Buchhalter des Todes wie Adolf Eichmann, und auch kein Zelot und Weltverbesserer wie Heinrich Himmler, die den Massenmord nur aus Befehlen, Zahlen und Statistiken kannten. Er kannte den Tod aus den vor Furcht weit aufgerissenen Augen von Frauen, Kindern und Greisen, wenn sie ihn um Gnade anflehten. Er kannte den Tod vom Brüllen der Opfer im Todeskampf, ihre in Todesstarre verkeilten Gliedmaßen, wenn die Tore geöffnet wurden und jeden Tag bis zu zweitausend Leichen vor ihm lagen. Und er kannte den Tod vom beißenden Geruch der Leichenverbrennung, der ihm nicht mehr aus der Nase wich. All das verdrängte er und rechtfertigte es mit der stupiden Mechanik von Befehl und Gehorsam. Als ihn seine entsetzte Frau zur Rede stellte, bekam sie die Antwort, er würde sogar seine fünf Kinder in den Tod schicken, wenn es von ihm verlangt würde.
Inmitten des Henkergeschäfts war ihm die Lust auf Geschlechtsverkehr gründlich vergangen, nachdem er eine Gefangene geschwängert und vergeblich versucht hatte, sie in einer Stehzelle verhungern zu lassen, um das Verhältnis zu vertuschen. Jede aufkeimende Rührseligkeit versteckte er hinter seiner Introvertiertheit und einer Gemütseinfalt, die niemand zu durchbrechen vermochte. Und jeden Abend kehrte er nach dem Mordritual des Tages wie ein ganz normaler Beamter, der seine Aufgaben vorschriftsmäßig erfüllt hatte, in die Gegenwelt seiner hausväterlichen Rolle und die beschauliche Feierabendidylle seiner Villa zurück.
Immer funktionierte er wie eine seelenlose Maschine des Todes, die nur Dienstwilligkeit, Treue, Selbstzucht und Pflichtbewußtsein kannte. Lange bevor Hannah Arendt die Metapher von der „Banalität des Bösen“ prägte, lange bevor Christopher Browning sein Buch über die „ganz normalen Männer“ schrieb, die zu Schlächtern wurden und dann in ihr alltägliches, banales Dasein zurückkehrten, als wäre nichts gewesen, war er mit seinem kalt funktionierenden Perfektionismus die Inkarnation dieser Spezies.
Schon in Dachau, seiner ersten Ausbildungsstation, jagte es ihm Schauer über den Rücken, wenn Häftlinge verprügelt wurden, und er hatte sich immer gedrückt, wenn es galt, rohe Gewalt auszuüben. Er war und blieb der „Mann aus der Menge“: unscheinbar, ohne sadistische Affekte, ohne den Drang zur Schindernatur und ohne den Hang zum Kriminellen. Aber er hatte eben auch keinen moralischen Kompaß und keine ethischen Werte, die ihn vor dem Abgleiten in die Barbarei hätten schützen können. Den Leviathan, der in solchen Durchschnittsnaturen vor sich hinschlummert, kann man nicht besiegen, wenn man ihnen nur den Kadavergehorsam austreibt, wenn man sie anonymen staatlichen Institutionen ausliefert oder wenn man mit ihnen einem antiautoritären Erziehungsideal huldigt.
Den niederen Leidenschaften, die in jedem Menschen rumoren, kann man nur beikommen, wenn man ein sittliches Fundament legt. In seinem Elternhaus jedoch, in Baden-Baden und in Mannheim, in das er 1901 hineingeboren wurde, fehlte jedwede moralische Lebens-orientierung. Unbedingter Gehorsam, peinliche Ordnung und tagaus, tagein die Erfüllung penibel vorgeschriebener Pflichten, daraus bestand seine Erziehungswelt. Seine Mutter Lina beugte sich dem strengen Regiment ihres Mannes stets stumm und ergeben. Der Vater, Franz Xaver, war ein religiöser Eiferer, der sich wie ein entrücktes höheres Wesen gerierte, der den Sohn in satanischer Frömmigkeit mit endlosem, sinnentleertem Beten bestrafte, der das Gelübde ablegte, aus ihm einen Priester zu machen und der ihm sein Dasein zur Arrestanstalt machte.
Die fatalen Folgen blieben nicht aus: der Rückzug des wehrlosen Knaben in Isolation und Einsamkeit, ohne Spielgefährten, Freunde oder Freundinnen; eine ausgeprägte Liebe zur Natur und eine innige Beziehung zu Pferden, denen er näherstand als den Menschen. Vor allem aber regte sich beizeiten ein rebellischer Bewährungshunger inmitten der Ziellosigkeit des Daseins und ein fast hypertropher Drang, sich willenlos einer Orientierungsmacht zu überantworten, die ihm mit strikten Imperativen den Weg aus seinem nutzlos-ärmlichen Dasein wies.
Hier lag die Wurzel für jene totalitäre Dressur, die nun folgte. Schon im Alter von 15 entfloh er als Sitzenbleiber in der Schule dem Elternhaus in den Weltkrieg, wo er mit gefälschtem Geburtsdatum und mit Auszeichnung an den Fronten in der Türkei, in Mesopotamien und Palästina kämpfte. Die weiteren Prägestationen des Entwurzelten hießen Freikorps, Fememord und Zuchthaus, ehe ihm der aufkeimende Nationalsozialismus eine neue emotionale Heimat bot. Schließlich der Eintritt in einen elitären Orden, der dem Minderwertigen das Gefühl von Geborgenheit und Kameradschaft verschaffte und ihm das Bewußtsein von Auserwähltheit einimpfte. Hier, in der „Societas Satanas“, kultivierte er in einem moralischen Abstumpfungsprozeß die unreflektierte Dumpfheit des leidenschaftslosen Massenmörders. Hier tötete er alle humanitären Restzweifel im Dienst einer höheren Idee. Und hier lernte er sein Tun mit dem Mantel von Gefolgschaftstreue zu rechtfertigen. „Was mich betrifft“, so gestand er einem Kameraden dann 1944, „so habe ich seit langem aufgehört, menschliche Gefühle zu haben.“ All das setzte ihn instand, die nach eigenem Bekunden „größte Menschenvernichtungsanlage aller Zeiten“ zu betreiben.
Wenn ihn die Nemesis dann doch noch erreichte, so war es sein lebenslanges Pflichtbewußtsein, das ihm das Genick brach. An alles hatte er gedacht, um das so fein gesponnene Netz seiner neuen Identität undurchdringlich zu machen. Aber als er aufgegriffen, enttarnt und schließlich am Ort seiner Verbrechen 1947 gehenkt wurde, steckte sein Ehering noch an seinem Finger, der ihn mit den eingravierten Initialen dann doch verriet.
Prof. Dr. Rainer F. Schmidt lehrte Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte am Institut für Geschichte der Universität Würzburg.