Folgt man Katja Hoyer, die eine „neue Geschichte der DDR“ verfaßt hat, so begann die Veranstaltung im Berliner Admirals-palast, auf der die Zwangsvereinigung von KPD und SPD besiegelt wurde, am 21. Mai 1946. Wenig später nennt sie den 21. August 1946. Tatsächlich handelte es sich allerdings um den 21. April 1946. Eine sagenhafte Anzahl von groben sachlichen Nachlässigkeiten, Fehlern und widersprüchlichen Angaben ist charakteristisch für das Buch, das verlagsseitig als „bahnbrechender neuer Blick auf das Leben in der DDR“ beworben wird. Über Hoyer wird mitgeteilt, daß sie „1985 in der DDR geboren“ wurde, nach ihrem Geschichtsstudium in Jena nach England gegangen sei und nun vielerlei Aufgaben wahrnehme, etwa als BBC-Kommentatorin und Forscherin am King’s College London. Fellow der Royal Historical Society sei sie und Kolumnistin der Washington Post. Allzu großen Wert auf Qualität scheinen diese Institutionen nicht zu legen, wenn sie etwas auf die Stimme einer Historikerin geben, in deren Werk Anspruch auf der einen, Sorgfalt und Sachkenntnis auf der anderen Seite kaum in Einklang zu bringen sind.
Lückenhafte Schilderung von zentralen Ereignissen in der DDR
Weitere Kostproben, etwa aus dem ersten Kapitel, einer Art Vorgeschichte, welche Hoyer nach dem Ende des Ersten Weltkrieges beginnen läßt: Die 1919 in Kraft getretene deutsche Verfassung war nicht das Grundgesetz, wie es im Buch heißt, und deren Artikel 48 räumte nicht dem Bundespräsidenten, sondern dem Reichspräsidenten umfassende Befugnisse ein. Über eine subtile Argumentation, die Hoyer aus Wolfgang Leonhards Klassiker „Die Revolution entläßt ihre Kinder“ zitiert, schreibt sie, daß er die Worte einer Zehnjährigen wiedergegeben habe. Die Zweifel, die jeden schon beim Lesen der Passage befallen müßten, erweisen sich bei einem Blick in Leonhards Buch als berechtigt. Dort spricht „ein junges Mädchen“, dessen Vater „für 10 Jahre verbannt“ worden war. Johannes R. Becher machte sich nicht erst „in der DDR einen Namen“ als Schriftsteller. Es geht munter weiter: Der kleine Ort Bruchmühle war nie „russisches Hauptquartier“, sondern 1945 für einige Tage Aufenthaltsort der „Gruppe Ulbricht“ – neben der es zwei und nicht drei Gruppen von Kommunisten gab, die aus der Sowjetunion nach Deutschland geschickt wurden. Über Stalin heißt es einmal, Deutschland sei „ein ihm kulturell, sprachlich und historisch fremdes Land“ gewesen, an anderer Stelle ist von „seiner Faszination für die deutsche Kultur, Literatur und Kunst“ die Rede. Wohlgemerkt, es handelt sich hier lediglich um Beispiele. Der 1:1-Umtausch von DDR-Mark in D-Mark war 1990 pro Erwachsenem bis zu 4.000 Mark möglich, nicht bis zu 6.000. Mit einem Lektorat scheint das Buch nicht in Berührung gekommen zu sein, von Fachlektorat ganz zu schweigen.
Unsauberkeiten wie der permanente synonyme Gebrauch von Sowjetunion und Rußland stören. Die Autorin hat das Buch auf englisch verfaßt. Unter der Übersetzung, die sie nicht selbst vorgenommen hat, leidet der Text zusätzlich. Unangenehm wirkt Hoyers Art, von Personen, die einmal eingeführt wurden, lediglich mit Vornamen und nicht selten in einem deplaziert wirkenden Erzählton zu sprechen. So heißt es etwa über Robert Bialek, der im August 1951 aufgefordert wurde, sich am „Friedensmarsch“ auf West-Berlin zu beteiligen: „Robert hatte kein gutes Gefühl dabei.“
Warum es sich um eine „neue“ Geschichte der DDR handeln soll, läßt sich nicht so recht erschließen. Hoyer erzählt Bekanntes entlang der Chronologie. Die – lückenhafte – Schilderung von zentralen Ereignissen und des Agierens maßgeblicher Politiker bzw. Funktionäre wechselt immer wieder mit längeren Blicken auf persönliches Erleben. Hier greift die Autorin auch auf von ihr geführte Interviews zurück, zahlreiche, oft nichtprominente Zeitzeugen kommen zu Wort. Dies dient der durchaus farbigen, illustrativen Gestaltung. Die Auswahl der Beispiele erscheint allerdings arg willkürlich; auffällig sind seltsam anmutende Ungleichgewichte. So schildert sie die zwangsweise Übersiedlung des eher unbekannten Physikers Helmut Breuninger, der verpflichtet wurde, mehrere Jahre in der und für die Sowjetunion zu arbeiten, erwähnt aber im Zusammenhang mit dem Abzug von Wissenschaftlern an keiner Stelle Manfred von Ardenne. Unterhaltsam wird es, wenn der Fokus auf den Alltag in der DDR gerichtet wird, auf die größeren und kleineren Geschichten. Etwa darauf, daß ein Levi’s-Jeansrock, den ein Verwandter aus Hildesheim einer 14jährigen ins sächsische Olbersdorf geschickt hatte, 1978 in Kombination mit dem FDJ-Hemd für die Schülerin zum Problem werden konnte. Bei einem Teil des Publikums dürfte derartiges eigene Erinnerungen hervorrufen.
Angemessene Beachtung
der DDR-Opposition
Hoyer erzählt von vielem, was die DDR ausmachte. So etwa von wirtschaftlichen Konsolidierungsphasen, der politischen Indienstnahme von historischen Persönlichkeiten wie Martin Luther, gewerkschaftlich organisiertem Urlaub und tödlichen Fluchtversuchen. Den repressiven, unmenschlichen Charakter des von Moskau gestützten Regimes verliert sie nicht aus dem Blick. Ungleichgewichte und sachliche Fehler in der Darstellung erstrecken sich jedoch bis zum Ende. Die für den Umbruch maßgebliche Leipziger Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989 datiert sie auf den 7. Oktober und vermengt sie mit anderen Demonstrationen, bei denen „Tausende auf die Straße gingen“. In Leipzig waren es an dem entscheidenden Tag mindestens 70.000. Nicht sonderlich betonte, aber angemessene Beachtung erfahren die Aktivitäten der DDR-Opposition. In einem für ein Buch mit dem umfassenden Anspruch einer „neuen“ DDR-Geschichte ohnehin auffällig schmalen Verzeichnis der zugrundeliegenden Literatur fehlen jedoch nicht nur diesbezügliche Standardarbeiten wie das umfangreiche Werk von Ehrhart Neubert. Über Gregor Gysi erfährt man, er sei zwar „22 Jahre Mitglied der SED gewesen“, habe aber auch „viele Oppositionelle wie Bärbel Bohley verteidigt“. Einige hübsche Eindrücke Gysis von den Weltfestspielen der Jugend 1973 finden sich noch – das Gysi-Bild, das ein wenig vorwissender Leser aufgrund dieser Informationen zurückbehält, ist, vorsichtig ausgedrückt, etwas problematisch. Es verwundert, daß Hoyer klagt, man tue die „DDR pauschal als Fußnote der deutschen Geschichte ab“, was die Notwendigkeit ihres Buches begründen soll. Die Tätigkeit der auf diesem Feld aktiven Historiker, derzeit allen voran Ilko-Sascha Kowalczuk, ist ihr offenbar entgangen. Dessen Publikationen lesen sich vielleicht etwas sperriger, bieten dem Interessierten aber dafür belastbare Informationen.
Katja Hoyer: Diesseits der Mauer.Eine neue Geschichte der DDR 1949–1990. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2023, gebunden, 576 Seiten, 28 Euro