© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/24 / 26. Januar 2024

Ein Plädoyer für Weltmarkt- statt Abschottungspolitik
Und sie dreht sich doch!
Erich Weede

Freihandel und Globalisierung kommen in der westlichen Welt aus der Mode. Dabei wird vergessen, was wir der Globalisierung verdanken. Wenn man den Anfang der letzten Globalisierungsphase mit Deng Xiaopings Reformpolitik in China und der Einbeziehung des damals volkreichsten Landes der Erde in die Weltwirtschaft beginnen läßt, dann sind bisher deshalb ungefähr eine Milliarde Menschen allerbitterster Armut entkommen. Obwohl die Hoffnung auf politischen Wandel zum Besseren durch Handel aufgegeben worden ist und die befriedenden Auswirkungen des Freihandels und freiheitlicher Volkswirtschaften zunehmend bezweifelt werden, beruht dieser Einstellungswandel weniger auf Fakten und soliden Analysen als auf der falschen Interpretation des russischen Angriffs auf die Ukraine.

Die Theorie des kapitalistischen Friedens oder die Hypothese von Frieden durch Freihandel hat nie impliziert, daß die Kriegswahrscheinlichkeit zwischen zwei Staaten mit wenig wirtschaftlicher Freiheit und ständig abnehmender wirtschaftlicher Verflechtung gering sei.  Das gilt für Rußland und die Ukraine seit der Auflösung der Sowjetunion und erst recht seit der russischen Annexion der Krim. Eine realistische Bilanz von Freihandel und Globalisierung läßt vielmehr befürchten, daß die Abkehr davon den globalen Kampf gegen die Armut verlangsamt und die Kriegsgefahr erhöht. 

Was als Alternative angeboten wird, ist altmodische Industriepolitik. Industriepolitik bedeutet notwendigerweise, daß mehr wirtschaftlich relevante Entscheidungen vom Staat, der Politik und den Ämtern, und weniger von Marktrisiken ausgesetzten Unternehmern gefällt werden. Spätestens seit 1945 sollten wir wissen, daß das nicht gutgehen kann. Damals erkannte der später mit dem Nobelpreis geehrte österreichische Ökonom Friedrich August von Hayek, daß die Wirtschaft dezentraler Entscheidungen einer Vielzahl von dem Wettbewerb unterworfenen Unternehmern bedarf statt zentraler Entscheidungen staatlicher Planer, um das auf Millionen Köpfe verstreute menschliche Wissen produktiv nutzen zu können.

Eine ähnliche Einsicht hat ein chinesischer Ökonom für das kommunistische Politbüro seines Landes so formuliert: Bei politischen Entscheidungen über die Ressourcenallokation und Investitionen besteht die Gefahr, daß die komparativen Kostenvorteile von Unternehmen und Volkswirtschaften nicht nur vernachlässigt, sondern sogar ins Gegenteil davon verkehrt werden. Viele volkreiche und kapitalarme Entwicklungsländer haben unter dem Einfluß sozialistischen Denkens sich entgegen ihren komparativen Kostenvorteilen lange für eine kapitalintensive Schwerindustrialisierung entschieden, um die angeblichen Kommandohöhen der Volkswirtschaften zu beherrschen. Erst seitdem China und Indien diesen falschen Fokus aufgegeben haben, wachsen ihre Volkswirtschaften schnell. Unter Mao Zedong haben planwirtschaftliche Fehler nach dem Großen Sprung nach vorn, 1959 bis 1962, sogar etwa 45 Millionen Menschenleben gekostet, damals sechs bis sieben Prozent der Bevölkerung des Landes. 

Trotz dieser grundsätzlichen Einwände gegen Industriepolitik werden neuerdings bevorzugt geopolitische Argumente gegen die Globalisierung angeführt. Wenn man dem globalen Markt seinen freien Lauf läßt, dann besteht durchaus die Gefahr, daß die Unternehmen des eigenen Landes durch Handel, Technologietransfer oder Ausbildung von Fachkräften die Volkswirtschaft von Rivalen und indirekt vielleicht sogar deren Aufrüstung stärken. Gegenwärtig interpretiert man in den USA den Aufstieg Chinas in den letzten Jahrzehnten auf diese Weise. Tatsächlich dürfte die Wirtschaftskraft Chinas seit Deng Xiaopings Reformen und der Öffnung der Volkswirtschaft um den Faktor 40 gewachsen sein. China ist in der Globalisierungsphase zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt und damit zur Weltmacht aufgestiegen. Wenn man die unterschiedliche Kaufkraft des Geldes in China und den USA berücksichtigt, dann kann man China auch schon für die größte Wirtschaftsmacht halten.

China – dasselbe gilt auch für andere ehemals arme, meist asiatische Länder – hat die Vorteile der Rückständigkeit genutzt. Die bestehen nicht nur in der Möglichkeit, überflüssige Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft abzuziehen und erst in der Industrie und später im Dienstleitungsbereich produktiv zu beschäftigen, sondern auch in der Möglichkeit noch rückständiger Länder, von der größeren wirtschaftlichen Freiheit und dem auch daraus resultierenden größeren Reichtum anderswo zu profitieren. Durch Imitation fortgeschrittener Volkswirtschaften, also Übernahme von Technologien und Geschäftsmodellen, auch durch die Belieferung kaufkräftiger Kunden in reichen Ländern, können arme Länder schneller als reiche wachsen.

Diesen Teil des Vorteils der Rückständigkeit hätte der Westen China durch Verweigerung des Marktzugangs für chinesische Warenexporte, durch Verzicht auf Exporte von Maschinen und Ausrüstungsinvestitionen in China oder auch durch Verweigerung der Aufnahme chinesischer Studenten an westlichen Hochschulen vorenthalten können. Vielen Amerikanern scheint es leid zu tun, daß die USA in der Vergangenheit durch die wirtschaftliche Freiheit im eigenen Lande und eine freiheitliche Globalisierungspolitik zum Aufstieg Chinas beigetragen haben statt diesen durch eine gegen China gerichtete Handelspolitik zu sabotieren. 

Sollte man sich dieser Auffassung anschließen und heute versuchen, die gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit, die in den letzten Jahrzehnten zwischen China und dem Westen entstanden ist, weitgehend zu reduzieren? Daß der Westen nicht durch Handel oder Technologietransfer den Aufbau der chinesischen Rüstungsindustrie fördern soll, versteht sich von selbst. Hierum soll es nicht gehen, sondern um die grundsätzliche Frage der Wünschbarkeit einer Abkoppelung des Westens von China, um Chinas Wirtschaft zu schwächen und die noch bestehenden Reste westlicher wirtschaftlicher Überlegenheit zu retten. Das wird etwas kosten! Seit Adam Smith, also ungefähr 250 Jahren, sollten wir wissen, daß das Ausmaß der Arbeitsteilung von der Größe des Marktes abhängt, daß Arbeitsteilung produktiv ist und Innovation fördert, damit Wohlstand und Wachstum. Eine Entscheidung gegen die Globalisierung, für die Zweiteilung oder Fragmentierung des Weltmarktes, wird uns auf Dauer schaden und die Menschen in den armen Ländern dazu verurteilen, länger als unvermeidbar in Armut zu verharren. Kann eine Politik mit westlichen Werten kompatibel sein, die nicht nur der eigenen Bevölkerung preiswerte Waren vorenthält und damit den Masseninteressen schadet, sondern die Erhaltung von Armut außerhalb des Westens entweder als Kollateralschaden in Kauf nimmt oder gar explizit zum Ziel hat? 

Außerdem stellt sich die Frage, wie schnell das funktionieren kann. Dazu hat der Economist einen Anhaltspunkt geliefert. Die deutsche Volkswirtschaft ist besonders eng mit der chinesischen verflochten. Um das Ausmaß der deutschen Investitionen in China um die Hälfte zu reduzieren, benötigt man beim gegenwärtigen Tempo 35 Jahre. Wenn man nicht ohne Rücksicht auf Verluste vorgehen will, wird der Entglobalisierungsprozeß zwecks Containment Chinas langsam sein. Der Economist geht davon aus, daß die Abhängigkeit der westlichen Volkswirtschaften von China in einem Jahrzehnt noch ungefähr genauso hoch sein wird wie heute. Gerade beim Versuch der klimafreundlichen Umgestaltung der globalen Wirtschaft wird die Zusammenarbeit zwischen China und dem Westen von enormer Bedeutung sein. Es würde nicht leicht und bestimmt sehr teuer sein, China als Lieferant von Seltenen Erden oder auch Batterien für Elektroautos oder Solaranlagen zu ersetzen. Außerdem stellt sich die Frage, wohin die neuen Fertigungsstätten nach dem Rückzug aus China, gegenwärtig noch die Fabrik der Welt, verlagert werden sollen. Besonders beliebt sind Vietnam und Indien. Das Problem bei Vietnam ist, daß vietnamesische Produzenten oft von chinesischen Zulieferern abhängen, worauf ebenfalls der Economist hingewiesen hat. Damit kann man die Abhängigkeit von China vielleicht verschleiern, aber nicht wirklich beheben. Bei Indien stellt sich eine andere Frage. Falls sich Indiens Wirtschaft gut entwickelt, dann hat das inzwischen volkreichste Land der Erde auf lange Sicht durchaus das Potential nicht nur ein Rivale Chinas, sondern auch des Westens zu werden. Müssen wir dann in einigen Jahrzehnten schon wieder bereuen, Geburtshelfer einer rivalisierenden Weltmacht gewesen zu sein?

Die wirtschaftlichen Kosten für uns im Westen und für andere außerhalb sind beim Abschied von der Globalisierung oder einem anfangs vielleicht noch verschleierten Wirtschaftskrieg gegen China klar. Sind es die erhofften geopolitischen Vorteile auch? In keiner Weise! In Asien war die Besetzung großer Teile Chinas durch Japan das Vorspiel zum  Zweiten Weltkrieg. Um den japanischen Vormarsch zu behindern, verhängten die USA ein Ölembargo und andere Wirtschaftssanktionen gegen Japan. Das antwortete auf diese wirtschaftliche Kriegserklärung mit dem Überfall auf Pearl Harbor. Danach wurde aus dem vorher begonnenen chinesisch-japanischen Krieg der pazifische Teil des Zweiten Weltkriegs.

Ein Wirtschaftskrieg kann zum Spiel mit dem Feuer werden. Wirtschaftliche Zusammenarbeit und freier Welthandel dagegen können alte Feindschaften überwinden. Das eindrucksvollste Beispiel dafür sind die Verlierer des Zweiten Weltkrieges und die Westmächte. Die amerikanische Freihandelspolitik zunächst innerhalb des Westens hat den Wiederaufstieg Westdeutschlands und Japans als exportorientierte Volkswirtschaften erlaubt. Heute sind beide Verbündete der Westmächte. Zugegeben:  Die Einbindung Chinas in die Weltwirtschaft Ende des 20. Jahrhunderts hat nicht so gut funktioniert. Aber hätte ein Boykott Chinas besser funktioniert? 

Eine Abkehr von Freihandel und Globalisierung würde uns allen schaden – nach Hayeks Hinweis auf die Unmöglichkeit der Mobilisierung des auf viele Köpfe verteilten menschlichen Wissens bei planwirtschaftlichen Entscheidungen. Sie würde auch das Risiko eines Staatsbankrotts wesentlich erhöhen. In Anbetracht des demographischen Wandels und des Aufbaus von Sozialstaaten neigen die meisten westlichen Staaten schon heute zu wiederkehrenden Defiziten im Haushalt. Ein wichtiges Instrument staatlicher Industriepolitik sind ebenfalls belastende Subventionen.

Besonders oft sollen diese Subventionen dem Klimaschutz dienen, also der Transformation der Industrie zwecks Vermeidung von CO2-Emissionen. Der Weltwährungsfonds hat allerdings gewarnt, daß die Staatsschulden bei einer Umstellung der Industrie durch Subventionen um knapp 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigen könnten. Neben dem bestehenden Sozialstaat sollten wir uns nicht noch einen Sozialstaat für Unternehmen leisten. Kürzlich hat ein Aufsatz im amerikanischen Cato-Magazin daran erinnert, daß Schuldenberge eine Bremse für Wachstum und Wohlstand sind. Mit einer Präferenz für Subventionen und Handelsbarrieren nehmen wir weniger Freiheit, weniger Effizienz und weniger Solidität in Kauf. Diese Entscheidung macht uns nicht sicherer vor Rivalen, sondern garantiert nur, daß Kriegsverhütung ausschließlich auf militärischer Abschreckung beruhen kann und nicht mehr auf der Hoffnung, durch wirtschaftliche Zusammenarbeit eine bessere Zukunft für alle zu erreichen.






Prof. Dr. Erich Weede, Jahrgang 1942, lehrte Soziologie an den Universitäten Köln und Bonn. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft. In der JF äußert er sich regelmäßig zu Fragen der Wirtschaft und Geopolitik.