© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/24 / 26. Januar 2024

Energiegeladen und tatbereit
Comic: Eine große Retrospektive des französischen Malers Pierre Joubert mit rund 500 Illustrationen aus dreißig Jahren
Karlheinz Weißmann

Das Leben des französischen Malers Pierre Joubert umfaßte den größten Teil des 20. Jahrhunderts. Er wurde am 27. Juni 1910 in Paris geboren und starb am 13. Januar 2002 in La Rochelle. Während dieser langen Zeit hat er mehrere Bücher geschrieben – unter anderem eines über die Wappenkunst –, vor allem aber mehr als fünfzehntausend Zeichnungen und Gemälde geschaffen. In der Regel handelte es sich um Auftragsarbeiten: kleinere oder ganzseitige Illustrationen für alle möglichen Zeitungen, Zeitschriften oder Bücher, Umschlagbilder von Romanen, Kalenderblätter oder erläuternde Skizzen (zum Beispiel in einem Mathematiklehrbuch „für das schwarze Afrika“). Das eigentliche Zentrum von Jouberts Schaffen bildeten allerdings die Publikationen der französischen Pfadfinder – der Scouts de France, später der Scouts d’Europe –, unter deren Einfluß er selbst groß geworden war.

Seit den 1930er Jahren galt Joubert als „offizieller“ Maler der Bewegung. Was auch erklärt, warum regelmäßig die Themen „Abenteuer“, „Kameradschaft“ und „Ritterlichkeit“ das Zentrum seiner Motive bildeten. Dem kam ein Stil entgegen, der zu Beginn Anleihen am Art déco machte, diese Orientierung aber rasch verlor. Im Zeichnerischen stand Joubert der Stilrichtung Ligne claire (klare Linie) nahe, die die französischen und belgischen Comics der Zwischenkriegszeit prägte, während seine farbigen Motive ein idealisierender Realismus bestimmte. Der erinnert stark an Norman Rockwell, der seinerseits aus der amerikanischen Pfadfinderbewegung kam und deren Leitvorstellungen lebenslang treu blieb.

Große Gemeinde von Verehrern auf der politischen Rechten

In jedem Fall wirkten die Figuren Jouberts immer – ganz gleich, ob es um Europäer, Araber, Schwarzafrikaner oder Indianer geht, um die ferne Vergangenheit, die Gegenwart oder eine phantastische Zukunft – energiegeladen, tatbereit und jungenhaft. Das erklärt hinreichend, warum er vor allem auf der politischen Rechten bis heute eine große Gemeinde von Verehrern hat. Nur sollte man daraus nicht auf Jouberts eigene Weltanschauung schließen. Fraglos spielte für die in den Anfängen der Katholizismus (der auch die französische Pfadfinderbewegung nachhaltig beeinflußt hat) eine Rolle, samt Sympathie für die Action Française und deren Miliz, die Camelots du Roy. Aber das waren keine Impulse von dauerhafter Bedeutung. Während der Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg hat Joubert der Kollaboration keine Zugeständnisse gemacht und seine Arbeit genauso unbeirrt fortgesetzt wie nach der Befreiung Frankreichs. In späteren Jahren bezeichnete sich Joubert als Linkskatholiken und unterstützte sogar die Präsidentschaftskandidatur des Sozialisten Mitterrand.

In seinem Werk ist auch davon nichts zu spüren, wie man jetzt einem umfangreichen Band entnehmen kann, der sich den ersten drei Jahrzehnten im Schaffen Jouberts widmet. Die Auswahl, die der Herausgeber Jean-François Vivier getroffen hat, zeigt vor allem, wie früh das Können Jouberts sichtbar wurde, und auch, welches Talent er für die Karikatur besaß, die anfangs einen größeren Teil seiner Arbeiten ausmachte.

Das Buch ist in erster Linie ein „Bilderbuch“; die Einleitung mit Hinweisen zum Lebenslauf Jouberts fällt knapp aus, mancher wird meinen: zu knapp. Aber im Mittelpunkt stehen die Illustrationen Jouberts, darunter viele, die an abgelegenem Ort erschienen sind. Sie wurden qualitativ hochwertig reproduziert und in chronologischer Reihenfolge vorgestellt, jeweils mit dem Zeitpunkt der Veröffentlichung und einer kurzen Erläuterung versehen.

Zweifellos wendet sich diese „Retrospektive“ in erster Linie an ein französisches Publikum, kann aber auch den Interessierten hierzulande einen Künstler näherbringen, den man entweder nur aus dem Umfeld der traditionellen Pfadfinderarbeit kennt (der Spurbuchverlag im bayerischen Baunach veröffentlicht zum Beispiel die Reihe der Prinz-Erik-Romane, deren Umschläge von Joubert stammen) oder an dem man achtlos vorbeigeht, weil er Sachbücher für Kinder ausgestattet hat. Im einen wie im anderen Fall wird man Joubert nicht gerecht.

Jean-François Vivier (Hrsg.): P. Joubert. Rétro­spective 1927–1959. Editions du Rocher – Plein Vent, Monaco 2023, gebunden, durchgehend farbig illustriert, 256 Seiten, 49 Euro