© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/24 / 26. Januar 2024

„Widrigkeiten formen den Charakter“
Kino: In dem Pennälerdrama „The Holdovers“ sorgt ein altmodischer Lehrer für Zucht und Ordnung
Dietmar Mehrens

Leider ist ja Weihnachten schon vorbei, aber bei wem der Christbaum noch nicht aus der Stube geflogen ist und der Abschied vom Fest der Feste nur widerstrebend gelingt, der kann jetzt im Kino noch einmal Weihnachten feiern – als Gast der Barton Academy. Dort verwandelt im Dezember 1970 Schnee das Schulgelände in eine malerische Winterlandschaft. Trotzdem wollen alle Schüler vor allem eines: ganz schnell weg. Denn an dem Elite-Internat, in das vornehmlich der Geldadel seine Zöglinge verfrachtet, entweder um mehr Zeit fürs Geschäft zu haben oder um dem Nachwuchs neben einer gehörigen Portion Bildung ordentliche Manieren beizubringen, herrschen Zucht und Ordnung.

Liebevoll und glaubwürdig gezeichnete Hauptfiguren

 Dafür steht wie kein anderer in Barton der Geschichtslehrer Paul Hunham (Paul Giamatti), ein Mann, der sich beharrlich weigert, bei einer schlecht ausgefallenen Klausur den Notendurchschnitt zu heben, indem er etwas milder zensiert (eines der Symptome übrigens für die deutsche Bildungsmisere). Und auch Wiederholungsprüfungen gibt es nur unter der Voraussetzung – Stichwort gute Manieren –, daß die Schüler ganz lieb darum bitten. Nicht überraschend also, daß Hunham – Spitzname Glubschauge – bei der Schülerschaft in etwa so beliebt ist wie ein rostiger Nagel im Autoreifen. Der Experte für antike Zivilisationen hat sich mit seiner schroffen Art viele Feinde gemacht. Auch bei der Internatsleitung ist er nicht unumstritten.

Als alle sich für die Weihnachtsferien rüsten, erfährt der verschrobene Lehrer, daß er in diesem Jahr zur Strafe für seine unduldsame Benotung die Aufsicht über die fünf Unglücklichen führen darf, die die Feiertage im Internat verbringen müssen. Vier von ihnen haben dann doch noch Glück und werden per Hubschrauber von einem der Väter in einen Skiurlaub mitgenommen; einzig der begabte, aber aufsässige Angus Tully (Dominic Sessa) bleibt mangels Ausfluggenehmigung seiner Eltern zurück. Außer der Köchin Mary (Da’Vine Joy Randolph), die zur Verköstigung der Internierten abgestellt ist, bleiben also nur Hunham und sein aufmüpfiger Schüler Angus in der Bildungseinrichtung zurück und müssen sich nun überlegen, wie sie die Zeit nutzen, ohne einander allzusehr auf die Nerven zu fallen. Der Lehrer hat dazu bereits ein sportlich-kulturelles Ertüchtigungsprogramm erarbeitet. Als Angus bei dessen eigenmächtiger Umsetzung in der frisch renovierten Turnhalle verunglückt, ist das der Auftakt zu einer ganzen Reihe von Mißgeschicken, Enthüllungen und Überraschungen, die das erfindungsreiche Drehbuch von David Hemingson für das ungleiche Trio bereithält und die es zu einer Ersatzfamilie wider Willen zusammenschweißen werden. 

Alexander Payne, zweifacher Oscar-Gewinner, wurde vor allem bekannt durch die Filme „Sideways“ (2004), ebenfalls mit Paul Giamatti, „About Schmidt“ (2002) mit Jack Nicholson und „The Descendants – Familie und andere Angelegenheiten“ (2011) mit George Clooney. Mit seiner neuen, etwas kleiner ausgefallenen Regiearbeit bleibt er seiner Linie treu, sich ganz auf seine liebevoll und glaubwürdig gezeichneten Hauptfiguren zu konzentrieren und sie sich durch eine Reihe von Widrigkeiten hindurcharbeiten zu lassen – passend zum Lebensmotto von Mr. Hunham: „Widrigkeiten formen den Charakter“. Das ist für den Zuschauer zumeist wesentlich erheiternder als für Paynes tragikomische Helden, aber der Regisseur beherrscht auch die leisen, melancholischen Töne, zu denen die grau-weißen Winterlandschaften, die die Kamera eingefangen hat, förmlich einladen.

Vieles von dem, was „The Holdovers“ erzählt, ist aus thematisch ähnlich gelagerten Filmen bekannt, aus dem Klassiker „Der Frühstücksclub“ (1985) etwa oder aus „Mr. Holland’s Opus“ (1995), und am Ende ist es dann ein Hauch von „Club der toten Dichter“ (1989), der durch das Gemäuer von Barton weht. Macht aber nichts, denn das sind alles tolle Filme. Und ganz ohne Vorbilder kommt auch ein Oscar-Preisträger nicht aus. 


Kinostart ist am 25. Januar 2024