© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/24 / 26. Januar 2024

Ein Klassiker der Moderne
Ausstellung: Die Frankfurter Schirn präsentiert eine große Retrospektive des Künstlers Lyonel Feininger
Claus-M. Wolfschlag

Ein Gang durch die aktuelle Ausstellung der Frankfurter Schirn Kunsthalle zeigt es: Lyonel Feininger ist beliebt. Nicht nur bei den Kuratoren und Kunstinteressierten, für die Bauhaus und Exilgeschichten anscheinend immer noch Zugpferde darstellen, sondern auch bei Kindern. Eltern und Pädagogen führen Kinderscharen durch die Schau, und augenscheinlich wecken viele Arbeiten Feiningers das Interesse der jüngsten Besucher. Das dürfte nicht unerheblich an Feiningers in die Karikatur abgleitenden Figurendarstellungen liegen, an seinen kinderbuchartigen Holzschnitten, die in einer Entwurfsreihe von 1918/19 auf Strichmännchenniveau absinken, sowie an seinen selbst gebastelten Holzspielzeugen. 

In geometrische Farbflächen zerteilte Bilder

Daß seine Figurendarstellungen plump und disproportional waren, lag wohl daran, daß der 1871 in New York geborene Deutsch-Amerikaner lange Jahre als Zeitungskarikaturist arbeitete. Rund 2.000 Karikaturen zeichnete er für Publikationen wie Ulk, Lustige Blätter oder Das Schnauferl. Diesen Erfahrungsschatz behielt er offenbar bei, als er im Alter von 36 Jahren die Malerei für sich entdeckte. Daß er es besser hätte machen können, zeigen einige Selbstporträts am Anfang der Ausstellung und ein Beispiel seines Talents als Comic-Zeichner für die Chicago Sunday Tribune aus dem Jahr 1906. Stattdessen aber bevölkern und stören immer wieder adipöse oder schlaksig-langgezogene Schießbudenfiguren seine Bilder, deren Gesichter entweder fehlen oder zu primitiven Grimassen verzerrt sind. Ein Metier, daß James Ensor deutlich meisterhafter lange zuvor umgesetzt hat. Den Kindern mag das noch gefallen, doch eine Lust- und Lieblosigkeit der Figurendarstellung ist bei Feininger häufig zu spüren, und so stellt sich zwangsläufig die Frage, warum er nicht einfach ganz darauf verzichtet hat?

Welch ein Kontrast zu seinen Architekturdarstellungen. Zuvor schon Mitglied der Berliner Secession und mit architektonischen Kompositionen beschäftigt, berief Walter Gropius Feininger 1919 zur Gründung des Staatlichen Bauhauses als Meister nach Weimar, wo dieser als Leiter der Druckwerkstätten arbeitete. Feininger blieb dem Bauhaus bis zu dessen Auflösung im Jahr 1932 verbunden und emigrierte 1937 zurück in die USA, wo er 1956 starb.

Entgegen seinen karnevalesken Figuren waren Feiningers architektonische Kompositionen zunehmend von strenger Ernsthaftigkeit geprägt. Durch prismatische Lichtbündelungen zerteilte er seine Bilder in versetzte geometrische Farbflächen. Die Wirkung ähnelt dem Lichteinfall aus Kirchenfenstern ins Innere gotischer Gotteshäuser, bloß daß Feininger diesen Effekt nach außen kehrte, in die Gesamtansicht von Gebäuden und Landschaften. So scheint es auf den Bildern bisweilen, als hätte Gott die Himmelsfenster geöffnet um der Erde seine leuchtenden Strahlen zu schicken.

Dabei glitt Feininger nicht in Grundfarben-Schemata à la Mondrian ab, sondern schuf farblich fein aufeinander abgestimmte und harmonische Kompositionen. Was bei den Gemälden „Zirchow VII“ (1918) und „Gaberndorf (I)“ (1921) noch als futuristisch-abstrahierendes Experiment im Gefolge der kubistischen Welle wirkt, entwickelte sich bei den Darstellungen der Kirche von Gelmeroda, des Doms und der Marktkirche von Halle sowie der Erfurter Barfüßerkirche zur Meisterschaft. Ob Feininger die spirituelle Wirkung, die diese Gemälde ausstrahlen, beabsichtigt hat, sei dahin gestellt. Manches Wunder entsteht auch ohne Bewußtsein und Absicht seines Verkünders.

Werke wie „Düne am Abend“ (1936), „Geheimnisvoller Mond“ (1945) oder „Fenris Wolf“ (1954) zeigen, daß Feininger ein großer Maler des kühlen nordischen Lichts hätte werden können, wenn er nicht immer wieder in diverse Spielereien – kubistisch beeinflußte Kompositionen, Kinderzeichnungen, gefällige, aber wenig innovative Fotografien – abgeglitten wäre. Ein Potential, das also nur zum Teil ausgeschöpft wurde.

Rund 160 Gemälde, Zeichnungen, Holzschnitte, Fotografien und Objekte zeigt die Frankfurter Retrospektive und bietet damit einen umfassenden Überblick zum facettenreichen Schaffen eines der bekanntesten Maler des 20. Jahrhunderts.

Die Ausstellung „Lyonel Feininger. Retrospektive“ ist bis 18. Februar in der Frankfurter Schirn Kunsthalle, Römerberg, täglich außer montags von 10 bis 19 Uhr, Mi./Do. bis 22 Uhr, zu sehen. Der Katalog aus dem Hirmer-Verlag mit 272 Seiten kostet im Museum 39 Euro.

 www.schirn.de