© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/24 / 26. Januar 2024

Dorn im Auge
Christian Dorn

Ist der Ruf erst ruiniert, regiert es sich ganz ungeniert. Oder: „Ganz Berlin haßt die AfD!“ – bekanntIich macht Haß häßlich. Da wundert es nicht, wenn die Kapitale ihr vielzitiertes Image als häßlichste Hauptstadt weiter um jeden Preis aufrechterhält. So hatte der Künstler Ai Weiwei sie noch unlängst als „die langweiligste, häßlichste Stadt“ bezeichnet und gewarnt: „Nur wenn man etwas verändern will, gehen sie in Verteidigungshaltung.“ Derweil wirbt die noch bis Sonntag laufende Grüne Woche in den Messehallen für Gaumenfreuden, die direkt anschlußfähig sind an den aktuellen Diskurs: Schnecken-Häppchen könnten ein Dauerrenner werden auf Empfängen der Deutschen Bahn, deren Sanierungsstau auf Jahrzehnte im voraus determiniert ist. Der Waschbär, der sich hier „zum Klops macht“, präsentiert sich nun auch mit der Waschbärenwurst. Doch keine Proteste – da haben die Veranstalter Schwein gehabt.

Theaterstück „Extrawurst“: Deutsche fordern im Namen der Toleranz einen zweiten Grill für den Moslem.

Ganz anders die Mitglieder des fiktiven Tennisclubs Lengenheide in der – von den „Stromberg“-Autoren Moritz Netenjakob und Dietmar Jacobs geschriebenen – Schauspielkomödie „Extrawurst“. Deren Inszenierung im Großen Haus des Harztheaters in Halberstadt, wo ich einst selbst bis 1989 Tennis gespielt hatte, elektrisiert mich sogleich. Doch sowenig Sowjetmacht plus Elektrifizierung gleich Kommunismus ergibt, so verpufft auch hier meine anfängliche Neugier. Tatsächlich geht es um Erol (Frederik Reents), das einzige türkische Club-Mitglied, das auf der Vereinsversammlung (für die hier das Publikum einspringen muß) zum Spielball mutiert zwischen den Deutschen, die im Namen der Toleranz einen zweiten Grill für den Moslem fordern, damit dieser separat – räumlich getrennt vom Schweinefleisch – seine „Türkenwurst“ grillen könne, und denen, die an der Tradition festhalten. Dabei fordert Erol (der mit Helga eine deutsche Frau hat, die strenge Muslima ist) gar keinen Extragrill für sich ein. Es handelt sich also um Diskriminierung – im Dienst bevormundender Gutmenschen. So etwa durch Erols Mixed-Partnerin Melanie (Alice Macura), die bei Kritik an Islam und türkischen Parallelgesellschaften („Wir haben mehr Vegetarier als Türken“) und wohl allein schon bei einem Sprichwort mit „Schwein“ statuiert: „Das ist keine Meinungsfreiheit, das ist eine Beleidigung.“ So gibt es den einzigen plötzlichen Szenenapplaus im Saal für Erol, als dieser in der immer hitziger werdenden Debatte dekretiert, Deutschland sei „eine Oase für schmarotzende Kanaken.“ Als der Mann Melanies, Torsten (Eric Eisenach), der sich als erklärter Atheist für den tolerantesten Menschen hält, seine Heuchelei und versteckte Eifersucht nicht länger verbergen kann und als bewußte Grenzüberschreitung „Ja, Scheiß, Scheiß, Scheiß, Arsch, Arsch, Arsch“ brüllt, ist endlich der aktuelle Anschluß zu Agnes Strack-Zimmermann hergestellt. Das Kopfkino findet ein rasches Ende, als am Schluß des Stückes die Schauspieler sich anfassen und zur orientalischen Musik tänzeln.


Apropos: Die Komödie „Extrawust“ wird an fünf Terminen im Februar und dann ab der zweiten Märzhälfte auch im Berliner  Renaissance-Theater gespielt.