© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/24 / 26. Januar 2024

„Wer soll uns noch wählen?“
Interview: Er gilt als liberales Urgestein – über dreißig Jahre war Holger Zastrow in der FDP. Nun hat der vormalige sächsische Landes- und Fraktionschef sowie Bundesvizevorsitzende seine Partei enttäuscht verlassen. Die FDP werde für ihren „historischen Fehler“, bis „zum bitteren Ende weiterzumachen“, teuer bezahlen müssen
Moritz Schwarz

Herr Zastrow, macht bei der FDP demnächst der Letzte das Licht aus?

Holger Zastrow: Na ja, das Totenglöckchen wurde ihr ja schon öfter geläutet. 

Sie meinen, Totgesagte leben länger?

Zastrow: Diesmal ist die Lage schon eine andere. 

Nämlich?

Zastrow: Seit unserer Regierungsbeteiligung haben wir alle Wahlen verloren, doch noch viel schlimmer, eine FDP-Kernklientel nach der anderen verprellt! 

Also doch schon mal Grabblumen bestellen? 

Zastrow: Auf jeden Fall rate ich der Partei, die Entwicklung sehr, sehr ernst zu nehmen. 

Gibt es dafür Anzeichen? 

Zastrow: Ich sehe keine, man scheint entschlossen zu sein, bis zum bitteren Ende weiterzumachen.

Aus Protest dagegen haben Sie die Partei nun verlassen? 

Zastrow: Mein Austritt am 16. Januar war das Ende eines langen, schleichenden Entfremdungsprozesses, der sich schon seit zehn Jahre vollzieht. Doch habe ich bis zuletzt gezögert und nach einem Zeichen, einem Strohhalm gesucht, der mich hält – vergeblich.

Was hat nun den Ausschlag gegeben? 

Zastrow: Am 8. Januar, dem Abschlußaktionstag der Bauern in Berlin, verfolgte ich alle Reden, auch die unseres Bundesvorsitzenden und die Reaktionen darauf. Ich muß sagen, es war der Tiefpunkt meiner fast 31 Jahre bei der FDP. 

Wieso, er hat die Bauern doch gelobt und umworben?

Zastrow: Aber sie nicht erreicht. Diese Rhetorik, die wohlfeilen Worte kann keiner mehr hören. Was fehlt, sind Taten! Das alles, die Enttäuschung, Verzweiflung und Wut der Leute hat mich intensiv an meinen Besuch zuvor bei den protestierenden Bauern, Handwerkern, Spediteuren, Gastronomen etc. auf dem Theaterplatz in Dresden erinnert. Und beides hat mich emotional sehr angefaßt – denn ich stand auch schon mal so auf dem Theaterplatz ... 1989.

Sie meinen, nur „auf der anderen Seite der Barrikade“?

Zastrow: Eben, das ist es. Und ich frage mich, wie konnte es dazu kommen? Was ich da sah, waren ganz normale Leute, unsere Leute! Für die wir früher gekämpft haben, deren politische Interessenvertreter wir sind. Fleißige, kreative Mittelständler, dank derer unser Land läuft – und nun ist es ausgerechnet unsere Politik, die sie auf die Straße treibt! Christian Lindner sagte ja mal, besser nicht, als schlecht zu regieren. Und nun sind wir Teil der wahrscheinlich schlechtesten Regierung überhaupt! Einer Regierung, die weder die Mehrheit anspricht noch unsere eigene Klientel. 

Wie erklären Sie sich das?

Zastrow: Tja, das ist die große Frage. Diese Regierungsbeteiligung ist ein historischer Fehler, und die Partei wird einen hohen Preis dafür zahlen.   

2009 hat die FDP bei der Bundestagswahl das beste Ergebnis ihrer Geschichte – 14,6 Prozent – erzielt, dann aber in der Regierung nicht „geliefert“ und flog 2013 mit ihrem historisch schlechtesten Ergebnis – 4,8 Prozent – aus dem Reichstag. Nun ist sie seitdem erstmals wieder in der Regierung und scheint genau dieses Szenario zu wiederholen. Pardon, aber sind die blöd?

Zastrow: Ich kann es mir nicht erklären. Und das ist, was ich meinte, als ich eben vom tiefen Eindruck sprach, den die Bauerndemos auf mich machen: Es ist ja nicht so, daß die FDP keine Proteste gewöhnt wäre. Guido Westerwelle, Parteichef von 2001 bis 2011, scheute nie davor zurück, auch zu unseren politischen Opponenten zu gehen, etwa auf Gewerkschaftsveranstaltungen, und witzelte gern, wie ihm Blumen zugeworfen wurden – an denen unten noch der Topf hing. Aber diese Leute, die Bauern, Handwerker etc., das sind ja nicht unsere Gegner, das sind unsere Leute! Und wie sehr muß man sich verrannt haben, wenn sie uns begrüßen, wie sonst unser erbittertster Feind? Ich frage die Parteiführung, wenn das unsere Politik ist, was glaubt ihr, wer soll uns noch wählen? Ich verstehe die Strategie nicht. 

Vielleicht richtet sie sich ja nur nicht auf die Partei, sondern besteht darin, bis zum Ende der Legislatur im Amt zu bleiben, um danach einen möglichst hohen Marktwert als Berater in der Wirtschaft zu haben? 

Zastrow: Nein, um die Parteispitze muß sich niemand Sorgen machen, keiner dort ist auf ein „Minister a.D.“ angewiesen. Ich selbst mache Politik aus Leidenschaft und gehe davon aus, daß das bei ihnen nicht anders ist. 

Erinnern Sie sich, was Christian Lindner im Wahlkampf in puncto Impfpflicht den Bürgern auf der Straße persönlich versprach? Um kaum im Amt kaltschnäuzig genau das Gegenteil zu tun. Oder mit welch eiskaltem Ton er das Ende der E-Auto-Förderung über Nacht kommentierte. Ja, er hat recht, es war klar, daß die irgendwann ausläuft. Aber zuvor gibt man eine Frist bekannt und läßt die Leute nicht ins offene Messer laufen. All das wirkt so gar nicht leidenschaftlich für Bürger und Sache, sondern wie Arroganz der Macht: Eure Probleme und mein Wort sind mir scheißegal. Pardon.

Zastrow: Das glaube ich nicht. Aber dennoch wundere ich mich über vieles und nicht nur über die Maßnahmen selbst, sondern auch, wie unklug und unprofessionell sie kommuniziert wurden. Im Fall der Bauern etwa ohne jede Vorbereitung, zudem kurz vor Weihnachten, verkündet so nebenbei im „Morgenmagazin“. Ja, was glaubt man denn, was die Leute tun werden, wenn man sie so behandelt? Und müßte man bei so weitreichenden Belastungen nicht vorher mit ihnen sprechen, zumal es in diesem Fall starke Interessensvertreter gibt? 

Aber belegt das nicht die eben formulierte These?

Zastrow: Ich denke, die Ursache ist eher in der großen Distanz von Berufspolitikern zur Lebenswirklichkeit begründet: Viele leben wie in einem Kokon, bleiben unter sich, umgeben von einem exklusiven Kreis von Medienvertretern, Beratern, vermeintlichen Experten und Lobbyisten, die ihnen eine Welt vorgaukeln, die es so gar nicht gibt. Echte Berührungspunkte mit der normalen Welt da draußen gibt es wenige, wenn man zuviel Zeit in der Berufspolitik zubringt oder gar noch nie etwas anderes gemacht hat. Die Probleme der Menschen da draußen sind nur noch eine abstrakte Größe, wenn man selbst oder in seiner Umgebung keine persönliche Betroffenheit mehr erfährt. Wird man dann durch solche Proteste mit der Lebensrealität konfrontiert, ist die Verwunderung groß, man fühlt sich in seiner Komfortzone gestört und greift zu Belehrungen und Beschimpfungen, wie ich sie von 1989 noch gut in Erinnerung habe, als demonstrierende andersdenkende Bürger vom Staat als Rowdys etc. verunglimpft wurden.

Wie das 1989 endete, ist bekannt. Doch wie endet es heute?

Zastrow: Wie immer, wenn Realität und Abgehobenheit kollidieren. In der politischen Blase, und weil es uns lange gut ging, hat sich eine Art spielerisches Verständnis von Politik entwickelt: wie am Kartentisch reizt man etwas, um zu sehen, wie der andere reagiert. Vermutlich war es auch im Fall der Bauern so: Wir preschen mal vor und ziehen bei Widerstand etwas zurück – das beruhigt die Gemüter, während wir die Hälfte so durchgesetzt haben. Nur für diese Tricks ist die Lage inzwischen zu ernst! Man zündet das ganze Land an und ist entrüstet, wenn das plötzlich zu ungewohnten Reaktionen führt. Allerdings ist es unfair, das nur der FDP vorzuwerfen, denn die anderen Parteien sind nicht anders.

Also Zeit für eine „richtige“ Opposition? 

Zastrow: Ich muß Sie enttäuschen, „die anderen Parteien“ schließt auch die AfD mit ein. 

Woher wissen Sie das, sie hat noch nie regiert?

Zastrow: Weil ich beobachte, daß auch sie bereits vom gleichen Krebsgeschwür befallen ist: Nach turbulenten ersten Jahren sind die übriggeblieben, die sich mit Seilschaften abgesichert und in der Politik eingerichtet haben und die genauso in einer realitätsfernen Politiker-Blase leben. 

Geben Sie der Partei doch erst mal eine Chance. 

Zastrow: Auch bei der AfD erleben viele durch ein Mandat einen erheblichen sozialen Aufstieg, dessen Vorzüge sie keinesfalls wieder hergeben wollen. Und da ihnen kaum Grenzen gesetzt werden, etwa durch Amtszeitbegrenzungen, weniger Privilegien, deutlich kleinere Parlamente oder auch nebenberufliche Parlamente auf Landesebene wie in der Schweiz, ist Politik bei uns zur Sache einer Art Kaste geworden. Man trifft – etwas überspitzt – die immer gleichen Typen und Karrieren. Die Vielfalt der Lebensläufe und Berufe gibt es schon lange nicht mehr. Die Parlamente und Parteien haben ihre Repräsentativität komplett verloren. Deswegen wissen es Politiker oft nicht besser und gehen fundamentalen Fehleinschätzungen auf den Leim. Und daher rührt auch ihre Überraschung über die Wut der Bürger, die scheinbar undankbar nicht zu schätzen wissen, was sie am grünen Tisch an Lösungen entworfen hat.  

Dennoch scheint es ja Unterschiede zwischen den Parteien zu geben, denn in Ihrer Austrittserklärung schreiben Sie: „Wir haben uns mit den Grünen ins Bett gelegt, die nicht das Interesse des Landes im Sinn haben.“

Zastrow: Richtig, ich glaube, den Grünen geht es weder um Deutschland noch um die Menschen, sondern in sektiererischer Art darum, zu missionieren und die Gesellschaft durch Erzeugung von Angst umzugestalten. Dank ihnen haben wir es fast überall mit Überzeugungstätern zu tun, deren Biographien und Karrieren sie zwar meist zu nichts qualifizieren, die aber alles besser wissen. Mit der Folge, daß randständige Themen wichtiger geworden sind als die Pflege der gesellschaftlichen Grundlagen und Rituale wichtiger als Arbeit.

Sie schreiben allerdings auch: „Ich habe Verständnis, daß wir es mit den Grünen probiert haben. Es hätte auch funktionieren können.“ Im Ernst? 

Zastrow: Ja, zwar hätte ich es mit den Grünen nicht probiert, aber man muß anerkennen, daß sich die Parteiführung einer Regierungsoption im Grunde nicht erneut verweigern konnte, nachdem sie das bereits nach der Bundestagswahl 2017 getan hat. Das wäre den Wählern, die für eine Partei stimmen, damit sie regiert, kaum zu vermitteln gewesen. 

Aber eben haben Sie die Regierungsbeteiligung doch noch aufs schärfste kritisiert. 

Zastrow: Ich kritisiere nicht den Versuch, sondern daß man dabeigeblieben ist, nachdem er gescheitert war. Übrigens ist auch das Argument, die FDP könne in der Regierung eher das Schlimmste verhindern als in der Opposition, nicht von der Hand zu weisen. Aber allerspätestens mit der Debatte um das unsägliche Heizungsgesetz war doch klar, daß mit den Grünen kein Staat zu machen ist. Da hätte die FDP die Ampel verlassen müssen. Stattdessen macht sie stur weiter. Was wirklich entsetzlich ist, denn die Ampel-Politik ist falsch und zwar so vollkommen, daß ich es kaum in Worte fassen kann! Wenn wir schon nicht auf der Seite der Mehrheit sind, dann doch wenigstens auf der Seite unserer Wähler, und wenn nicht das, dann wenigstens auf der Seite unserer Werte. Ich befürchte, wir sind es weder noch. Wir haben uns zu viel von den Grünen abgeguckt.

Nämlich? 

Zastrow: Deren Sturheit, Verbissenheit, Kompromißlosigkeit, es geht immer um Überzeugungen und die richtige Haltung, und dabei haben wir unsere Leute und die, für die wir im Bundestag sitzen, vergessen. Ob noch einer von denen glaubt, daß wir für ihn kämpfen, schwitzen und uns die Hände schmutzig machen? Und wir haben vergessen, daß die Grünen unsere volle widerständige Aufmerksamkeit brauchen, weil sie eine Gefahr für die Freiheit sind, die freiheitliche Gesellschaft. 

Inwiefern?

Zastrow: Ständig bevormunden sie, ständig gängeln sie, ständig belehren sie. Längst hätten wir sagen müssen: Stopp! Bis hierher! Nicht weiter! Stattdessen lassen wir zu, daß sie sich in Deutschland austoben können. Und wir vergessen dabei unsere roten Linien. Niemals, unter keinen Umständen schreiben wir den Leuten vor, wie sie zu leben, zu heizen, zu fahren, zu reisen, sich zu ernähren oder ihren Betrieb zu führen haben etc. Genau das tut die Ampel aber, und wir sind dabei. Ein Jammer!

Als Stimmkönig, also als der Abgeordnete in der Dresdner Kommunalpolitik mit den meisten Stimmen, brauchen Sie sich diesen Vorwurf wohl nicht zu machen. Wie aber geht es weiter für Sie?

Zastrow: Da ich mein Mandat in direkter Wahl gewonnen habe, behalte ich es und arbeite mit meinen geschätzten Fraktionskollegen weiter zusammen. Auch habe ich keine Sorge, ich könnte nicht wiedergewählt werden. 

Aber was können Sie in Zukunft alleine bewegen?

Zastrow: Eben, das ist das Problem, daher denke ich über etwas Neues nach. Der Zuspruch und die Unterstützungsangebote der letzten Tage waren überwältigend. Ich muß das jetzt alles sortieren und dann schaue ich, ob ich in Dresden und vielleicht auch im Land etwas versuche.  

Gerade hat die Werteunion beschlossen, eine neue Partei zu gründen, die Heimat für alle sein soll, die sich in Union und FDP nicht mehr zu Hause fühlen.

Zastrow: Es gibt ja mehrere neue politische Projekte. Doch bislang überzeugt mich keins, weil Emotionen und Unzufriedenheiten alleine nicht ausreichen. Will man wirklich etwas verändern, dann braucht es eine neue Idee, die richtigen Leute und Professionalität. Ob die Werteunion das bietet, wird sich zeigen. Interessant ist sie allemal. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob es überhaupt noch mehr konservative Angebote braucht. Ich selbst sehe Chancen eher in der Mitte und in einer freiheitlichen Politik. Hier gibt es im Moment die größte Repräsentationslücke. 






Holger Zastrow, übernahm nach der Landtagswahl 1999 die FDP Sachsen und führte sie von 1,1 Prozent zu zehn Prozent bei der Wahl 2009 in die sächsische Regierung. Einen Ministerposten und das Amt des stellvertretenden Ministerpräsidenten lehnte er jedoch ab, um seine Werbeagentur weiterzuführen und von der Politik unabhängig zu bleiben. 2004 bis 2014 war er Fraktionschef im Landtag, bis 2019 Landesvorsitzender und von 2011 bis 2013 stellvertretender FDP-Bundesvorsitzender. Seit 2004 gehört der Industriekaufmann, geboren 1969 in Dresden, auch dem Stadtrat an, wo er – nun als Parteiloser – die FDP-Fraktion führt.