© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/24 / 19. Januar 2024

Der Flaneur
Der Funke zündet nicht
Paul Leonhard

Die S-Bahn ist auf die Hälfte der sonst üblichen Wagen geschrumpft. Aber sie fährt, ist sogar fast pünktlich. Nach einem Tag des Stillstands, weil gestreikt wurde, herrscht wieder der alltägliche Wahnsinn: Zug fällt aus wegen Triebwagenschaden, zu später Bereitstellung, Erkrankung des Zugführers, Menschen auf den Gleisen, Polizeieinsatz, kaputter Weiche und was es sonst noch an Ausreden gibt. Es gibt auch S-Bahnen, die fahren einfach nicht ein und verschwinden kommentarlos von der Anzeigetafel.

Aufgrund der fehlenden Waggons stehen die Menschen dichter als sonst. Kürzere Wege für die Zugbegleiterin, die sich tapfer durchkämpft und die Tickets verlangt. Gerade staucht sie einen jugendlichen Fahrradfahrer zusammen, weil dieser sein Mountainbike nicht vorschriftsgemäß abgestellt hat. Der bekommt unter seinen Ohrhörern erst gar nicht mit, daß er gemeint ist.

„Alle müßten streiken“, entfährt es der Schaffnerin, und sie schaut sich um, „alle die noch arbeiten“.

„Wissen Sie“, hat sich die Uniformierte inzwischen einen untersetzten Mann vorgenommen, der über immer neue negative Überraschungen beim Fahrplan klagt, „ich bin nicht gerade überzeugt von diesen Streiks“. Sie deutet in Richtung des Triebwagens. Es gebe genügend Bahnmitarbeiter, die wären schon mit vier Prozent Lohnerhöhung zufrieden. Aber selbst das helfe nichts angesichts der Inflation. 

„Alle müßten streiken“, entfährt es der kleinen Schaffnerin plötzlich, „alle die noch arbeiten“, und sie schaut sich kämpferisch um. 

„Damit dann morgen in der Zeitung steht, es habe einen faschistischen Putschversuch gegeben?“, fragt ein Weißhaariger resigniert. Generalstreik, sinniere ich. Was heute als „faschistisch“ gilt, würde in späteren Geschichtsbüchern vielleicht als Volksaufstand gegen die Ampel beschrieben werden. Und ich wäre genau in jener S-Bahn gewesen, wo der Funke zündete. Aber die Gesichter ringsherum bleiben müde, teilnahmslos. 

Der Glanz in den Augen der Zugbegleiterin erlischt. „Ihre Tickets“, fordert sie mutig. Diesmal von einer Gruppe junger Männer, die gerade eingestiegen sind und die Frau einfach ignorieren. An ihrer Sprache höre ich, es sind die wahren Revolutionäre. Jene, die unser Land gerade grundlegend verändern.