© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/24 / 19. Januar 2024

Absturz eines Giganten der Lüfte
Nach Beinahe-Katastrophe erneut Startverbot für Boeing-Flugzeuge der 737-Max-Reihe / Massive Sicherheitsprobleme?
Fabian Schmidt-Ahmad

Haarscharf entging Flug 1282 der Alaska Airlines von Portland (Oregon) nach dem 1.350 Kilometer entfernten Ontario im San Bernardino County (Kalifornien) einer Katastrophe. Nur Minuten nach dem Start durchrüttelte eine Explosion den Flieger – und in der Bordwand der gerade einmal vier Monate alten Boeing 737 Max 9 klaffte ein großes Loch. Glücklicherweise waren zu dem Zeitpunkt noch alle 171 Passagiere angeschnallt, so daß niemand von dem gewaltigen Sog in über viertausend Metern Höhe ins Freie gezogen wurde. So kamen Passagiere und Crew mit einem gehörigen Schrecken davon.

Für Flugzeughersteller Boeing fängt der Ärger jedoch erst an. Die US-Luftfahrtbehörde FAA hat eine Untersuchung der Boeing 737 Max 9 eingeleitet. Wieder einmal, denn nach zwei verheerenden Flugzeugabstürzen der 737 Max 8 hatte die Behörde dem Typ bereits im März 2019 für fast zwei Jahre die Flugerlaubnis entzogen. War damals ein Konstruktionsfehler die Ursache, verdichten sich nun Hinweise auf Schlamperei bei der Montage. Nicht schlecht staunten Ermittler, als sie das fehlende Bauteil aus der Bordwand fast unversehrt in einem Garten bei Portland fanden. Nur die Sicherungsbolzen, die das Element fixieren sollten, sind bisher nicht aufgetaucht. Auch waren keine Abrißspuren oder dergleichen auszumachen. Es spricht einiges dafür, daß die wichtigen Bolzen beim Bau des Fliegers schlicht vergessen wurden. Das wirft einige Fragen gegenüber Boeing auf. Was ist nur mit dem Vorzeige-Unternehmen geschehen?

Boeing, das stand für technischen Fortschritt, für Wertarbeit auf höchstem Niveau. „Wenn es nicht von Boeing ist, dann nimm es nicht“, war einst unter Airline-Betreibern ein geflügelter Spruch. Heute müssen sich Piloten und Passagiere gruseln. Wie konnte es dazu kommen? Es ist eine Geschichte von Trägheit, Selbstüberschätzung und einigen fatalen Fehlentscheidungen. In den goldenen 1960er Jahren, da war die westliche Passagierluftfahrt amerikanisch. Entweder man flog Douglas, McDonnell oder den Platzhirsch Boeing. Douglas geriet in Schwierigkeiten und wurde 1967 von McDonnell aufgekauft, McDonnell Douglas geriet in Schwierigkeiten und wurde 1997 von Boeing aufgekauft, Herr über einem Reich, in dem die Sonne nie untergeht? Mittlerweile hatte sich ein Außenseiter an die Riesen herangeschlichen und jagte diesen ein Marktsegment nach dem anderen ab – Airbus.

Die 737 konnte dem neuen A320 nicht auf Augenhöhe begegnen

Die Europäer störte die US-Dominanz in der Zivilluftfahrt, woraufhin ein deutsch-französisch-spanisches Konsortium den ersten Airbus entwickelte. Der A300, Erstflug 1972, besetzte als erstes zweistrahliges Großraumflugzeug für die Kurz- und Mittelstrecke geschickt eine Marktlücke. 1987 forderte Airbus dann mit dem A320 Amerikas Flugzeugriesen in der „Volumenklasse“ (Schmalrumpfflugzeuge für bis zu 200 Passagiere) heraus. Dieser lukrative Markt wurde von der 737 dominiert, noch vor der riesigen 747 seit 1967 Boeings wichtigster Kassenschlager. Anfangs belächelt, konnte Boeing nicht verhehlen, daß der zwanzig Jahre jüngere Angreifer das modernere Flugzeug war. Ende der neunziger Jahre erschien zwar die verbesserte Version 737 NG („Next Generation“), die vor allem auf dem amerikanischen Markt Stammkunden weiter an sich binden konnte, aber ab da begann der Niedergang. Warum Boeing die Zeit nicht nutzte, einen Nachfolger für die 737 zu entwickeln, der dann der A320 auf Augenhöhe begegnen konnte, bleibt ein Rätsel. Waren es Liquiditätsprobleme nach der Übernahme von McDonnell Douglas? Oder ein Wandel der Unternehmenskultur? Hatten zuvor Ingenieure bei Boeing das Sagen, so wurden diese immer mehr von Betriebswirten verdrängt, die eher etwas mit Aktienkursen und Cashflow anzufangen wußten als mit Tragflächengeometrie und redundanten Sicherheitssystemen.

Es kam jedenfalls, wie es kommen mußte. Als Airbus 2010 eine Überarbeitung seiner A320-Familie ankündigte, brach in Boeings Firmensitz in Everett bei Seattle Panik aus. Denn die modernisierte Version, die ab 2015 als A320 Neo („New Engine Option“) ausgeliefert wurde, stellte wieder einen großen Abstand zur 737 NG her. Boeings Antwort war die 737 Max, die Überarbeitung der 737 NG, die wiederum eine Überarbeitung der fünfzig Jahre alten Urversion darstellt. Das klingt nicht nur nach Bastelei und Pfusch, das ist es auch.

Wesentliches Verkaufsargument war, die 737 Max sei kein neuer Typ, eine kostspielige Umschulung der Piloten entfalle daher. Eine gewagte Behauptung, die durch massive elektronische Eingriffe in die Flugsteuerung gewährleistet werden sollte. Diese Eingriffe dürften dann direkt verantwortlich für zwei Abstürze neuer 737 Max 8 gewesen sein. Neben dem gewaltigen Imageverlust mußte Boeing sein wichtigstes Verkaufsprodukt fast zwei Jahre am Boden lassen. Ein Virus aus Wuhan rettete den amerikanischen Flugzeugriesen zunächst. Denn dadurch stagnierte ab März 2020 weltweit der Flugverkehr. Airbus konnte Boeings Schwäche nicht ausnutzen, sondern mußte selbst Stornierungen hinnehmen. Aber Boeing band, anders als Airbus, erfahrene Mitarbeiter nicht durch Kurzarbeit an sich, sondern feuerte sie schlicht.

Jetzt fehlt Boeing qualifiziertes Personal. Der jüngste Vorfall dürfte entsprechend nicht auf technisches Versagen, sondern extreme Nachlässigkeit zurückzuführen sein. Ursprünglich reine Zubringer, bedienen gestreckte Versionen der 737- und A320-Familien inzwischen sogar Fernstrecken, auf denen Großraumflugzeuge unrentabel wären. Das macht nach internationalen Vorgaben den Einbau von zusätzlichen Notausstiegen nötig – oder auch nicht, wenn eine Fluggesellschaft auf die maximal mögliche Bestuhlung verzichtet.

Blende als tickende Zeitbombe nur durch den Luftdruck festgehalten

In diesem Fall kann die Fluggesellschaft den zusätzlichen Notausstieg weglassen. Dann wird die Türöffnung vom Hersteller durch eine Blende verschlossen, was von innen für die Passagiere kaum zu erkennen ist. Nur sollte natürlich die Blende auch durch verläßliche Bolzen gesichert sein. Sonst wird sie als tickende Zeitbombe nur durch den Luftdruck an Ort und Stelle gehalten. Eben das dürfte bei Flug AS 1282 passiert sein. Durch einen glücklichen Zufall blieb die am meisten betroffene Dreiersitzreihe vor der Blende leer.

Doch auch vor Corona war die Qualitätssicherung bei Boeing in der Tat ein Problem. Legende die Anekdoten beim Wartungspersonal, das beispielsweise bei fabrikneuen Fliegern Putzlappen hinter Cockpitinstrumenten fand. Den Vogel schossen wohl jedoch jene trinkfreudigen Arbeiter ab, die 2021 zwei leere Tequilaflaschen im Rumpf einer 747-800 vergaßen, die derzeit unter strengster Geheimhaltung umgebaut wird. Auftraggeber – der amerikanische Präsident. Hoffen wir, daß hier nicht auch Schrauben vergessen wurden.

Information von Boeing zum Fall 737-Max: www.boeing.com

Mitteilungen der US-Luftfahrtaufsichtsbehörde: www.faa.gov