Am Abend des 21. Januar 1924 starb der sowjetische Revolutionsführer Wladimir Iljitsch Uljanow alias Lenin im Alter von 53 Jahren nach einer längeren Serie von Schlaganfällen. Woraus diese resultierten, zeigte die Obduktion am Folgetag auf eindrucksvolle Weise: „Der Durchmesser der linken Arteria carotis war so eng, daß nur ein Borstenhaar hindurchpaßte“, notierte Professor Wiktor Osipow von der Militärmedizinisch-Chirurgischen Akademie in Petrograd für das Protokoll. Doch damit nicht genug: „Die Arterie des Hirnstamms war ebenso verengt, daß ihre Öffnung einer Stecknadel glich.“ Darüber hinaus fanden sich auch an anderen Gefäßen auffällige arteriosklerotische Veränderungen, im Volksmund „Verkalkungen“. So beispielsweise an der Großen Bauchschlagader und den Herzkranzgefäßen. Infolge der Minderdurchblutung des Gehirns bot dessen linke Hälfte einen schockierenden Anblick. Augenzeugen beschrieben sie als „verschrumpelt, zerdrückt und nicht größer als eine Walnuß“.
Auf Befehl des Volkskommissars für öffentliche Gesundheit Nikolai Semaschko sorgte der sowjetische Chefpathologe Alexei Abrikossow dafür, daß das Obduktionsprotokoll mehrmals frisiert wurde, um den extrem schlechten Gesundheits- beziehungsweise auch Geisteszustand des „Genies“ Lenin zu verschleiern – am Ende gab es daher mindestens drei und möglicherweise sogar acht Varianten des Dokuments. Unabhängig davon rätselten die Fachleute natürlich über die Ursache der Veränderungen im Gehirn des Verstorbenen. Manche hielten diese für eine Folge des Attentats vom 30. August 1918, bei dem Lenin Treffer in Schulter und Brust erhalten hatte. Denn seitdem steckten zwei Kugeln in seinem Körper, von denen eine erst im April 1922 entfernt wurde und die andere nie, weil kein Chirurg die riskante Operation wagen wollte. Allerdings kann eine dadurch möglicherweise bewirkte schleichende Bleivergiftung nur die Kopf- und Magenschmerzen sowie die Augenprobleme und diversen neurologischen Beschwerden des Revolutionsführers erklären, nicht jedoch die gravierende Gefäßverkalkung.
Deutlich wahrscheinlicher ist daher eine erbliche Belastung. Lenins Vater Ilja Uljanow starb im Alter von 55 Jahren an den Folgeschäden seiner Arteriosklerose. Und Lenins Geschwister Anna, Dmitrij und Maria litten ebenfalls an diesem Gebrechen.
Im Widerspruch hierzu gehen manche Medizinhistoriker davon aus, daß die pathologischen Veränderungen des Gehirns des Begründers der Sowjetunion vorrangig aus einer Neurosyphilis resultierten. Diese Krankheit entsteht, wenn die primäre Syphilis nicht konsequent behandelt wird, und führt oft zu massiven Schäden am Zentralnervensystem. 1895 war der damals 25jährige Lenin mehrere Monate lang durch etliche europäische Länder gereist und hatte dabei unter anderem auch das „Sündenbabel“ Paris besucht. Kurz darauf weilte er zwei Wochen lang als Patient in einem Schweizer Sanatorium – vielleicht zum Auskurieren der „Lustseuche“?
Auf jeden Fall erlitt Lenin nur vier Wochen nach der Entfernung des Projektils in seiner Schulter durch den deutschen Chirurgen Julius Borchardt einen Schlaganfall, der zu erheblichen Lähmungserscheinungen führte. Dennoch weigerte er sich, die politische Arbeit ruhen zu lassen und nahm engagiert an Diskussionen über die Verfassungsfrage und ähnliche Themen teil. Daraufhin folgte zwischen dem 13. und 15. Dezember 1922 eine regelrechte Welle von bis zu sieben neuerlichen Hirninfarkten. Kurz darauf bat Lenin seinen Gefolgsmann und potentiellen Nachfolger Stalin um Gift „aus humanitären Gründen“. Dieser Wunsch nach Sterbehilfe wurde jedoch nicht erfüllt.
Am 10. März 1923 ereilte Lenin ein weiterer schwerer Schlaganfall, durch den er das Sprachvermögen verlor. Die bolschewistische Führung ließ ihn daraufhin auf das Landgut eines enteigneten „Kapitalisten“ in Gorki rund dreißig Kilometer südlich von Moskau bringen und komplett von der Außenwelt abschirmen. Eine seinerzeit entstandene Fotografie zeigt Lenin an den Rollstuhl gefesselt und mit vollkommen leerem Blick. Aufgrund seiner Kämpfernatur überlebte der Begründer des Sowjetimperiums noch weitere zehn Monate, bevor er schließlich einem letzten Schlaganfall erlag.
Im Zuge des postmortalen Personenkultes um Lenin, der mit seiner pompösen Trauerfeier und der nachfolgenden Aufbahrung des einbalsamierten Leichnams im Mausoleum auf dem Roten Platz einsetzte, wollten die Kremloberen der Weltöffentlichkeit ungeachtet des bestürzenden Obduktionsbefundes vom Januar 1924 handfeste medizinische Beweise für die herausragenden Geisteskräfte des Verstorbenen präsentieren. Dabei stützten sie sich auf den renommierten deutschen Hirnforscher Oskar Vogt.
Obduktion des Gehirns offenbarte Lenin als „Assoziationsathleten“
Der hatte gemeinsam mit seiner Frau Cécile die Methode der Cytoarchitektonik begründet. Diese diente dem Zweck, Zahl, Größe und Struktur der Gehirnzellen zu analysieren, um zu erklären, wie die „Elitegehirne“ besonders begabter Menschen aussehen und funktionieren. Vogt wurde von der Industriellenfamilie Krupp mit enormen Summen gefördert, was nicht zuletzt die Gründung eines Kaiser-Wilhelm-Institutes für Hirnforschung ermöglichte, das unter der Leitung des Ehepaares Vogt stand.
Vogt reiste Mitte 1925 nach Moskau, wo er die gesündere Hälfte von Lenins Gehirn in genau 30.953 Scheiben zerschnitt, welche lediglich eine Dicke von 20 Mikrometern aufwiesen, und diese dann mikroskopisch untersuchte. Hierbei sichtete der Deutsche „auffallend große und besonders zahlreiche Pyramidenzellen in der III. Schicht, so wie der Athlet durch eine besonders stark entwickelte Muskulatur charakterisiert ist“. Deswegen bezeichnete er Lenin auch als „Assoziationsathleten“, weil viele, gut vernetzte Pyramidenzellen für besseres Denken sorgen. Allerdings unterschlug Vogts von der Moskauer Führung frenetisch gefeiertes Gutachten den entscheidenden Umstand, daß dies alles nur für eine Hirnhemisphäre galt und die Arteriosklerose Lenin im Laufe der Jahre immer stärker kognitiv eingeschränkt hatte.
Später meinten etliche Historiker, die Geschichte der Sowjetunion und somit auch die Weltgeschichte hätten sicher einen ganz anderen Verlauf genommen, wenn Lenin nicht schon in relativ jungen Jahren gestorben und von dem Diktator Stalin beerbt worden wäre. Angesichts der Entscheidungen des Revolutionsführers in der Zeit vor seinem rapiden gesundheitlichen Verfall ab 1922 ist dies jedoch zu bezweifeln. Immerhin wurde das bolschewistische System der Straflager und die Praxis der Massenmorde an „Klassenfeinden“ bereits zu der Zeit begründet, als Lenin noch das Kommando führte.