© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/24 / 19. Januar 2024

Die Mär vom „Zionazi“
Judenhaß im linken Milieu: Wer nie weggeschaut hat, weiß, marxistischer Antisemitismus ist so alt wie die Achtundsechziger
Dietmar Mehrens

Nach den verbalen Ausfällen von Greta Thunberg und dem internationalen Schulterschluß von Linksextremisten mit der palästinensischen Befreiungsbewegung schaut die linksliberale Welt entsetzt auf die unheilige Allianz, die sich da gebildet hat. Wie erklärt sich der neue linke Judenhaß?

Eine prinzipielle Ablehnung der westlichen Zivilisation, einen „Anti“-Habitus, aus dem sich ein Zusammenhang zwischen Antikapitalismus und Antisemitismus fast zwangsläufig ergebe, bescheinigt Norbert Bolz der internationalen Linken. Der Medienwissenschaftler, der Prüfungen gemeinsam mit dem der TU Berlin angelagerten Institut für Antisemitismusforschung durchgeführt hat, faßte am 17. November vorigen Jahres in der Servus-TV-Sendung „Talk im Hangar-7“ seine universitären Erfahrungen so zusammen: „Die neuen Juden sind die Palästinenser, die verfolgt werden.“

 Sein Widerpart in der Sendung, die Wiener Studentin Lara Chommakh, vertrat den Standpunkt der linksextremen Demonstranten. Ihr Hauptargument: Es seien viel mehr Leute von Islamophobie betroffen als von Antisemitismus. Als Bolz sich verwundert darüber zeigte, daß Regenbogenaktivisten Seite an Seite mit arabischstämmigen Hamas-Sympathisanten marschierten, obwohl radikale Moslems nicht gerade als Streiter für mehr Toleranz gegenüber abwegigen sexuellen Orientierungen bekannt seien, erklärte die Studentin der Agrarwissenschaft: „Queers for Palestine sind vermutlich für Palästina, weil sie selbst Unterdrückungserfahrungen gemacht haben.“ Und damit sind wir bei dem großen Mythos, der Linksextremisten aller Länder vereinigt: dem von der universellen patriarchal-kapitalistischen Unterdrückung. Von hier ist der Weg zum alten Klischee vom raffgierigen Juden nicht weit.

Sprengstoffanschlag auf Jüdisches Gemeindehaus Berlin 1969

Norbert Bolz spricht von einer neuen Theorie, in der die Juden zu Nazis umdeklariert würden, aber was daran soll neu sein? „Aus den vom Faschismus vertriebenen Juden sind selbst Faschisten geworden, die in Kollaboration mit dem US-Kapital das palästinensische Volk ausradieren wollen.“ So stand es schon 1969 nach dem gescheiterten Sprengstoffanschlag auf eine jüdische Gemeinde im dazugehörigen Bekennerbrief. Er war von seinen Urhebern in perfidester Manier ganz bewußt auf den 9. November gelegt worden, den Jahrestag der Reichspogromnacht. Wolfgang Kraushaar vom Hamburger Institut für Sozialforschung hat die Hintergründe des Attentatsversuchs in seinem Buch „Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus“ (2005) minutiös rekonstruiert und damit nachgewiesen, daß es ein frühes linkes Pendant zum gescheiterten Synagogen-Anschlag von Halle 2019 gibt, das keiner je eines Gedenkens für würdig erachtet hat.

„Der Baader-Meinhof-Komplex“ (1985), das aufwendig verfilmte Buch von Stefan Aust, ruft die Waffenbrüderschaft zwischen PLO und RAF in Erinnerung. Das Schimpfwort „Zionazi“ geistert schon seit Jahrzehnten durch Anti-Israel-Demos. Und wer bereits Ende der Siebziger zur Schule ging, der erinnert sich gewiß noch an den Kult um Terroristentücher im Arafat-Stil, die zum letzten Schrei der linken Jugend wurden. Etwa jedes dritte Mädchen (und auch der eine oder andere Junge) betrat in der kalten Jahreszeit mit einem potthäßlichen Palästinensertuch anstelle eines Schals den Schulhof – Solidarität, die keiner Worte bedurfte. Gebetsriemen oder Kippas kamen dagegen nie in Mode, auch nicht als 1979 im Fernsehen erstmals die US-Serie „Holocaust“ ausgestrahlt wurde.

Nicht ganz so lange, aber immerhin auch schon fast fünfzehn Jahre ist es her, daß der damalige Spiegel-Journalist Jan Fleischhauer mit seinem Buch „Unter Linken“ eine beeindruckende Beispielsammlung für linken Antisemitismus vorlegte. Er bescheinigt der sozialistischen Bewegung einen „Opferneid“, der es nicht ertrage, daß die Juden, obwohl in einer westlich-kapitalistischen Wohlstandsgesellschaft lebend, ihnen ihren Status als Repressionsgeschädigte streitig machten. Er erinnert an linksextreme Schüler, die im November 2008 in Berlin aus „Wut“ und „Ohnmacht“ eine pro-jüdische Gedenkausstellung verwüsteten und an ihr historisches Pendant, die Tupamaros West-Berlin, eine marxistische Gruppierung, die sich zum Ziel gesetzt hatte, die „Vorherrschaft des Judenkomplexes“ zu brechen. Die Tupamaros steckten hinter dem Anschlag auf das jüdische Gemeindehaus, über den Wolfgang Kraushaar sein Buch schrieb.

Israel ist die einzige funktionierende Demokratie im Nahen Osten

Fleischhauer zählt weitere Beispiele auf: den versuchten Sprengstoffanschlag der APO-Aktivistin Annekatrin Bruhn auf ein Büro der El Al 1969, das Budapester Attentat auf einen Bus mit jüdischen Auswanderern durch die RAF-nahe „Bewegung für die Befreiung Jerusalems“ 1991, die Entführung einer Air-France-Maschine auf dem Weg von Tel Aviv nach Paris durch die linken Terroristen Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann 1976, bei der die jüdischen Passagiere vom Rest der Fluggäste getrennt wurden, um an ihnen ein Exempel zu statuieren. Fast noch schlimmer: die beschämende Reaktion linker Medien auf die Befreiungsaktion durch ein jüdisches Antiterrorkommando. Der heutige Focus-Kolumnist erinnert an die hohe Zahl jüdischer Terroropfer in den Jahren vor der Absperrung des palästinensischen Siedlungsgebiets durch einen Schutzzaun, die trotzdem international heftig kritisiert wurde, an das Mißverhältnis zwischen Uno-Resolutionen, die Israel zur Ordnung riefen (bis 2009: 280 an der Zahl), und solchen, die sich an Jordanien, Syrien oder Ägypten abarbeiteten, und an die Tatsache, daß Israel das einzige Land im Nahen Osten mit einer funktionierenden Demokratie und Menschenrechtsgarantien nach westlichem Vorbild ist.

Ein zum Hakenkreuz

verbogener Davidstern

Fleischhauer erbringt den Nachweis, daß antisemitische Karikaturen schon zwei Jahrzehnte vor Claudia Roths Documenta-Skandal salonfähig waren – in Gestalt einer jüdisch-amerikanischen Mücke (NS-kompatibles Symbol für den gierigen Blutsauger) als Titelillustration für das Gewerkschaftsblatt Metall. Erhellend auch der Hinweis auf eine Krisensitzung 2003 bei den Palästinafreunden von Attac infolge einer Kauft-nicht-von-Juden-Kampagne der „AG Globalisierung und Krieg“ und die Reminiszenz an eine Demonstration vom Januar 2009 in der Bundeshauptstadt, bei der neun Bundestagsabgeordnete der Liste Links a priori vom Vorwurf der Kontaktschuld freigesprochen waren, obwohl sie hinter einem Spruchband mit der Aufschrift „Holocaust in Gaza“ herliefen und auf der Demo Parolen wie „Tod Israel“ oder „Hisbollah bis zum Sieg“ geschrien wurden. Ein taz-Artikel mit der Überschrift „Umgekehrter Holocaust“ aus dem Jahr 1982 findet Erwähnung, der Israel den Versuch einer „Endlösung der Palästinenserfrage“ unterstellte, und heftiger Leserprotest, der scharenweise in der Redaktion von Konkret eintrudelte, nachdem die Zeitschrift einen PLO-kritischen Text veröffentlicht hatte. Heute nennt man das „Shitstorm“. Es könnte aber auch heißen: Faschismus ohne Straße.

Einen Sturm der Entrüstung entfesselten hingegen weder ein zum Hakenkreuz verbogener Davidstern von Globalisierungsgegnern auf dem Weltsozialforum 2003 in Porto Alegre noch im selben Jahr beim Weltwirtschaftsforum in Davos ein gelber Judenstern an der Brust von Antikapitalisten, die so kostümiert ein goldenes Kalb aus Pappmaché umtanzten.

Ein weit verbreiteter Mythos lautet, daß sich die Achtundsechziger durch wissenschaftliches Schrifttum substantiell an der Aufarbeitung der deutschen NS-Geschichte beteiligt hätten. Aber schaut man auf die wichtigsten Namen: Ernst Nolte,

Joachim Fest, Martin Broszat, Eugen Kogon, Hannah Arendt – wo findet sich darunter ein prominenter Achtundsechziger? Selbst im legendären Kursbuch von Hans Magnus Enzensberger: viel konformistisches Gefasel über sozialistische Gesellschaftsentwürfe, wenig NS-Aufarbeitung. Raul Hilbergs „Die Vernichtung der europäischen Juden“, im Original 1961 erschienen, fand im vermeintlichen Zeitalter der großen Befreiung vom NS-Muff nicht mal einen Verlag. Viel zu sehr stand der Kampf gegen das gegenwärtige kapitalistische System im Vordergrund – mit Vokabeln, die heute für den Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz Thomas Haldenwang zwingend den Tatbestand der „verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“ erfüllen würden: Wo der Parlamentarismus mit Reichsbürger-Rhetorik als „Akklamationsmaschine“, „Wahlzirkus“ oder „Schwatzbude“ verhöhnt wird, da müssen beim Verfassungsschutz doch die Alarmglocken läuten!

Wenn Haldenwang von seiner Ministerin strikte Order bekäme, nach solchen Begriffen in der linken Szene von heute Ausschau zu halten, egal ob sie sich als „Klimaschützer“, „Seenotretter“ oder „Menschenrechtsaktivisten“ maskieren, wer zweifelt daran, daß er fündig würde?