© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/24 / 19. Januar 2024

Im Schatten des Ararat
Armenien: Von falschen Freunden und Feinden umgeben, versucht der kleine Kaukasusstaat zu überleben
Irmhild Boßdorf

Das Schachspiel ist seit zwölf Jahren ein Pflichtfach an armenischen Schulen. Das strategische Denken soll damit gefördert werden, eine Notwendigkeit in dem kleinen Kaukasusstaat, der von allen Seiten von falschen Freunden und Feinden umgeben ist.

Gerade erst hat das Land die Einwanderung von über 100.000 Armeniern aus Bergkarabach zu verkraften, die nach dem aserbaidschanischen Blitzkrieg am 19. und 20. September vergangenen Jahres hierhin geflohen sind. Die „Republik Arzach“, wie sich diese autonome Region seit 2017 nannte, war international nie anerkannt worden, jetzt hörte sie auf zu existieren. Anders als noch bei den Kämpfen im Jahr 2020 hatte die armenische Armee diesmal nicht einmal mehr Truppen nach Bergkarabach entsandt. Ein einziger Korridor war nach den vergangenen kriegerischen Auseinandersetzungen vor vier Jahren zwischen Aserbaidschan und Arzach in Richtung Goris geblieben, der einzig mögliche Fluchtweg nach Armenien.

Unterkunft finden die Flüchtlinge überwiegend in der Hauptstadt Eriwan, in der mehr als die Hälfte der 2,8 Millionen Einwohner des Landes leben. Die Wohnungsnot ist riesig, nicht zuletzt deswegen haben sich die Mietpreise in den letzten zwei Jahren verdoppelt. Doch nicht nur der Exodus aus Karabach ist dafür verantwortlich: Auch etwa 100.000 Russen sind zu Beginn des russisch-ukrainischen Kriegs vor fast zwei Jahren nach Eriwan geflüchtet, um nicht als Kanonenfutter verheizt zu werden. Heute ist eine Ausreise nach Armenien für junge Russen nicht mehr möglich. Auffällig ist die relativ neutrale Haltung gegenüber Rußland, ein deutlicher Unterschied zu den meisten Nachfolgestaaten der Sowjetunion, in denen Rußlandfeindlichkeit an der Tagesordnung ist.

In Eriwan wird an allen Ecken und Enden gebaut. Die wenigen Hinterlassenschaften aus der zaristischen Zeit – klassizistisch anmutende Bauten aus Tuffstein in allen Farbschattierungen – müssen im Moment ebenso wie etliche brutalistische Bauten der Stalinzeit einem Bauboom weichen, bei dem seelenlose Zweckbauten in die Höhe schießen. Dabei hatte der armenische Architekt Alexander Tamanjan seit den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts versucht, Eriwan ein modernes Antlitz zu verpassen. Das damals errichtete Opernhaus zeugt bis heute davon, ebenso wie der weitläufige Platz der Republik, der im Stil des sozialistischen Klassizismus entstand und dessen Gebäude Regierungsinstitutionen beherbergen. 

Zur Weihnachtszeit zierte ein über zwanzig Meter hoher Weihnachtsbaum, der aus einem Metallgestänge zusammengesteckt, reichhaltig verziert und beleuchtet wurde, die Mitte des von einem großen Kreisel umgebenen Platzes. Der Zutritt zu diesem ist einzig über einen eigens errichteten Fußgängerübergang möglich. Überall in der Stadt und so auch hier standen verkleidete Weihnachtsmänner, die gegen kleines Geld als Requisite für Weihnachtsbilder posieren. 

Mehr als die Hälfte der Armenier lebt im Ausland

Auch an diesem Platz fällt die Sauberkeit der Stadt auf – ein junger Mann liest Zigarettenstummel auf. Überall in der Stadt trifft man auf Kolonnen von Frauen und Männern, die mit dem Besen in der Hand die öffentlichen Parkanlagen und Gehsteige kehren und sauberhalten. Vom Platz der Republik führt eine neu angelegte Grünanlage auf einer Fläche von 7.500 Quadratmetern nach Westen. In fünf mehrfarbigen Springbrunnen mit 2.800 Wasserstrahlern gibt es im Sommer Wasserspiele zu sehen. Jetzt im Winter fallen die fliesengelegten Gehwege im Park auf, bei denen Ornamente traditioneller armenischer Teppichmuster zu erkennen sind. Ein in der Diaspora lebendes und zu Reichtum gekommenes armenisches Ehepaar hat der Stadt diesen Park 2018 geschenkt, dazu die Kosten für die Pflege der Anlage für die nächsten einhundert Jahre gleich mit übernommen. 

Das älteste Viertel der Stadt ist Kond – kleine Stiegen und versteckte Treppen führen in dieses Stadtviertel im Herzen von Eriwan. Die Bauten sind eine Mischung aus heruntergekommenen Steinhäusern, Wellblech und Holzplanken. Einige sind bewohnt, sogar Wäsche flattert bei Temperaturen um den Gefrierpunkt an der Leine. Viele stehen jedoch leer und sind mit Unrat zugeschüttet. In den engen Gassen stehen allenthalben frischpolierte neue Autos. Wohnen scheint also ein weniger wichtiges Statussymbol zu sein als das eigene, möglichst luxuriöse Auto. 

Es gibt wenige Bushaltestellen und an diesen hängen auch keine Fahrpläne aus, dennoch halten ab und zu „Marschrutkas“, alte klapprige Busse, dort, um die Wartenden einzusammeln. Wer sich fortbewegen will, verläßt sich daher auf sein eigenes Auto. Besonders zu den Hauptstoßzeiten gleicht die Stadt einem Riesenstau und verschwindet unter einer Dunstglocke, in der sich die Gerüche von Kohleöfen und Abgasen mischen. 

Unterhalb des Kond-Viertels befindet sich in der Hrazdan-Schlucht, die auch durch einen 1936 eröffneten Tunnel von 450 Meter Länge aus der Stalinzeit zu erreichen ist, der ehemalige „Kinderpark“. Wer einen verlassenen Ort sucht, ist hier richtig. Schon der Tunnel ist schaurig, eine Fahrbahnröhre ist mittlerweile zugeschüttet, die zweite nur noch als Fußgängerweg nutzbar, das zickzackförmig angelegte Oberlicht flackert und erlischt manchmal ganz. Aus einem Tanzlokal, in dem keine Gäste zu sehen sind, dudelt kitschige Weihnachtsmusik, die ehemalige Dampflok der Kindereisenbahn rostet vor sich hin, ebenso die eigens für sie angelegten Kinderbahnhöfe und das Karussell. Hier wird schon länger nicht mehr gespielt.

Von den acht Millionen Armeniern leben nur knapp drei Millionen hier. Beliebte Auswanderungsländer sind Frankreich und die USA. Deutschland zählt nicht dazu: Zu viele Türken, so ist zu hören, lebten dort. Ihnen wird eine anhaltend feindselige Haltung gegenüber den Armeniern unterstellt. Das Wort „Türkei“ wird gemieden, selbst dann, wenn die Armenier ihren heiligen Berg, den Ararat, beschreiben und präsentieren. Sein höchster Gipfel ist über 5.100 Meter hoch, vom westlichen Ende der Stadt gibt es einen guten Blick in das armenische Hochland und auf den Ararat, doch beide liegen seit über einhundert Jahren auf türkischem Staatsgebiet.

Für Deutschland gibt es dennoch viel Lob. Schließlich hat der Deutsche Bundestag gegen den Protest der türkischen Regierung im April 2016 eine „Armenienresolution“ verabschiedet, in der der Genozid an den Armeniern verurteilt wird. Diesem Völkermord, der am 24. April 1915 mit der Verhaftung, Verschleppung und Ermordung prominenter armenischer Intellektueller im damaligen Konstantinopel begann, fielen schätzungsweise 1,5 Millionen Armenier zum Opfer. Bis heute gilt dieser Tag Armeniern in aller Welt als Gedenktag. 

Doch die wechselvolle Abfolge von Fremdherrschaft, Teilung und Staatlichkeit in ihrer jahrtausendelangen Geschichte hat die Armenier auch fest vereint. Der heidnische Tempel von Garni, 1679 bei dem schrecklichen Erdbeben zerstört, wurde wieder aufgebaut. Viel präsenter sind im Land aber Kirchen und Klöster. Mit der armenisch-apostolischen Kirche gibt es eine eigene christliche Glaubensrichtung. 

Vom Kommunismus hat sich das Land noch immer nicht erholt

Überhaupt ist es der Glauben, der die Armenier in den vielen Jahrhunderten ihrer wechselvollen Geschichte zusammengehalten hat. Schmucklose Kirchen und Klöster, aus Vulkansteinen wie Basalt oder Tuff gebaut, sind überall im Land zu finden. Etliche entstanden in Eriwan erst nach der erneuten Staatsbildung 1991. Einzige Verzierung sind die „Kreuzsteine“ – große Platten aus weichem Tuff, bei denen christliche Kreuze mit floralen Elementen geschmückt wurden. In Eriwan gibt es tatsächlich noch eine Kreuzsteinwerkstatt am Straßenrand, bei der die Steine behauen werden. Über den Preis der Kunstwerke ist allerdings nichts in Erfahrung zu bringen. Auch eine eigene Schrift, die mittlerweile 38 Buchstaben umfaßt, wurde Anfang des fünften Jahrhunderts eingeführt. Frühe armenische Handschriften sind in dem schweren Basaltbau des Matenadaran-Museums im Norden der Stadt zu bewundern.

Stolz und Armut strahlt das Land, in dem 98,5 Prozent der Bewohner Armenier sind, aus. Ökonomisch hat sich das Land vom Niedergang des Kommunismus immer noch nicht erholt. Der Tourismus spielt bislang kaum eine Rolle. Die letzte alte Markthalle GUM im Süden der Stadt hat mittlerweile ihre Tore geschlossen, auch dort wird ein Supermarkt einziehen. Die Lebensmittelpreise sind sehr hoch, einen Restaurantbesuch können sich die wenigsten Einheimischen leisten. Sie weichen lieber auf die überall in der Stadt zu findenden „Kantinen“ aus, bei denen es wie in alten Sowjetzeiten hochwertige, günstige Mahlzeiten gibt.