Gern erinnere ich mich an die heiteren Zeiten, als ich frisch in die Schweiz zugewandert war. Ende der 1990er Jahre gab es nur sehr wenige Deutsche in Bern. Wir wurden als liebenswerte Exoten angesehen, mit denen die Eingeborenen Hochdeutsch übten, in Geschäften erhielt man Hinweise, daß es hier auch möglich sei, mit der Deutschen Mark zu bezahlen. Wir bekamen zwar keine Teddybären bei der Ankunft, trotzdem fühlten wir uns wohl. In der Stadt gab es kaum Massenansammlungen, Wohnungen waren leicht zu finden und auf den Straßen war Platz.
Das ist schon lange her. Heute herrscht Dichtestreß. Das Schlagwort beschreibt den emotionalen und psychologischen Zustand, der entsteht, wenn zu viele Personen in einem engen Gebiet leben. In der Schweiz ist das heutzutage fast überall der Fall. Ein Grund dafür ist die immense Zuwanderung. Während im Jahr 2000 die Bevölkerungszahl sieben Millionen Menschen betrug, sind es heute acht Millionen, 2050 könnten es nach Prognosen dann schon mehr als zehn Millionen sein.
Es hilft dann nur noch der Rückzug in die persönliche Blase, wenigstens dort
gibt es noch Ruhe.
Spüren läßt sich dieses Wachstum täglich, die Infrastruktur ist am Anschlag. Wer die öffentlichen Verkehrsmittel in Bern benutzt, findet diese zu den Pendlerzeiten oft überfüllt vor. Gott sei Dank starren die meisten Reisenden in ihr Smartphone, so daß die Notwendigkeit von Gesprächen entfällt. Außer es gibt einen Rempler von ungestümen Menschen, und der Kaffee landet auf dem frisch gereinigten Anzug. Dann folgt eine devote Entschuldigung oder Beleidigung, abhängig von der Täterlaune.
Wer am Morgen einen Sitzplatz ergattert, erlebt schon fast ein Gefühl der Einsamkeit. Selbst mit dem Auto ist es nicht möglich, sich diesem Elend zu entziehen. Zwar sitzt auch der Schweizer dort meist allein, allerdings sind viele Baustellen und Staus ebenfalls nicht gut für das Gemüt. Und wer sich im Großraum der begehrten Hauptstadt Bern einen neuen Unterschlupf suchen muß, sieht sich vor große Herausforderungen gestellt.
Appartements mit einer briefmarkengroßen Wohnfläche kosten Unsummen. Selbst die Flucht ins Umland hilft nicht. Orte, die über eine minimale Infrastruktur verfügen, sind überteuert, und wenn etwas bezahlbar ist, wird es meist unter der Hand vergeben. In die Berge zu fliehen, hilft ebenfalls nicht. Die Pfade sind ausgetrampelt, Mountainbiker nerven, und die Hütten sind überfüllt. Es nicht möglich, nur fünf Minuten durch die Berner Alpen zu wandern, ohne jemand anderen zu treffen, der einen dann auch noch grüßt.
Daran wird sich auch im neuen Jahr nichts ändern. Die Nettozuwanderung bleibt hoch, der Platz knapp. Es hilft nur der Rückzug in die persönliche Blase, wenigstens dort gibt es noch Ruhe.