© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/24 / 19. Januar 2024

Der Westen dankt ab
Ukraine, Israel, Jemen, Taiwan – die Welt nutzt unsere Schwäche
Albrecht Rothacher

Die Träume von einer regelbasierten, auf Völkerrecht und Uno-Auspizien beruhenden Weltordnung, in der der Sicherheitsrat in New York weise den Streit schlichtet und die Amerikaner zur Not als Weltpolizist eingreifen, sind gründlich ausgeträumt. Auch wenn sie noch von den Sonntagsrednern im Schloß Bellevue und im Auswärtigen Amt wider besseres Wissen gepredigt wurden.

Europa muß sich neu erfinden, wenn es in der Welt wieder etwas zu sagen haben will. Schon im Golfkrieg von 1990/91 stoppte George Bush Senior Saddam Husseins Annexion von Kuweit, und 1995 taten dies Nato-Bomben mit Slobodan Milosevics Versuch, sich Teile Bosniens einzuverleiben. Doch als Bush Junior anno 2002 die „Achse des Bösen“ ausrief, überlebten zwei der ausgesuchten Bösewichter: Iran und Nordkorea. Der Irak und mit ihm der Nahe Osten wurden nach dem Sturz Saddams nachhaltig destabilisiert. Den gleichen Effekt verstärkte 2011 Barack Obama (plus Briten und Franzosen) mit dem blutigen Sturz Gaddafis in Libyen und dem vergeblichen Versuch, das Assad-Regime in Syrien gewaltsam zu beseitigen. Putins Kriege gegen die Tschetschenen (1999/2000), gegen Georgien 2008 und die Krim-Annexion 2014 lockten dagegen nur nur ein müdes Stirnrunzeln hervor.

Die wahre Zeitenwende kam am 31. August 2021, als nach Trumps Ankündigung des Rückzugs aus dem 20jährigen ebenso vergeblichen wie teuren Afghanistan-Abenteuer sein Nachfolger Joe Biden diesen genau terminiert wahrmachte. Bei ihrer kopflosen Flucht führten die Amerikaner der Welt vor, was von ihrer scheinbaren Unbesiegbarkeit, ihrer Militärstrategie und Bündnistreue zu halten war – nämlich wie schon 1975 in Vietnam und Kambodscha: nichts.

Für Wladimir Putin, der nur auf taktische Schwächen des Gegners – in diesem Fall des kampfunwilligen US-Weltpolizisten – lauerte, war dies das Signal, sich sechs Monate später der lohnendsten, scheinbar schutzlosen Beute vor seiner Haustüre zu bemächtigen: der Ukraine. Die Tatsache, daß die Staats- und Regierungschefs Frankreichs und Deutschlands die schon 2008 von Kiew beantragte Nato-Mitgliedschaft erfolgreich hintertrieben hatten, mußte ihm wie eine Einladung erscheinen.

Ein Machtvakuum verführt immer zum Krieg. Die Mehrheit der US-Amerikaner ist in ihrem Neo-Isolationismus nur noch auf sich selbst fixiert. Der 81jährige Joe Biden ist der letzte, der auf seine europäischen Wurzeln stolz ist. Daß Donald Trumps Großvater aus Kallstadt in der Pfalz stammt, ist für den Narzißten, der hierzulande – obwohl er keine Kriege angefangen hat – öffentlich nur geschmäht wird, unerheblich.

Die anderen potentiellen nächsten Präsidentinnen Karmala Harris oder Nikki Haley stammen von Indern ab. Wenn überhaupt, dann interessiert die USA nur noch, wie sie ihren chinesischen Weltmachtrivalen niederhalten können. Weswegen sich die zunehmend stalinistische Xi-Jinping-Diktatur trotz aller Drohgebärden und militärischer Einkreisungs- und Abschnürungsübungen gegen das demokratische Taiwan, das jüngst nochmal seinen Kurs pro Washington und contra Peking bestätigte, noch keine offene Aggression traut.

Hätte es eines weiteren Beweises für die Kopflosigkeit der Brüsseler Außenpolitik gebraucht, trat sie nach den Hamas-Massakern vom 7. Oktober in einem schnell eskalierenden Kampf im Gaza-Streifen voll zutage. Kommissionschefin Ursula von der Leyen trat zum Fototermin an der Seite des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu – seinerseits nicht unbescholten – unkoordiniert wie üblich auf und verkündete die volle Solidarität der EU mit Israel ohne Vorbehalte. Die österreichische Bundesregierung, Spanien, Irland, Frankreich, Belgien und weitere warben indes für Zurückhaltung, für einen Waffenstillstand und humanitäre Korridore.

Wer nach außen uneinig ist, hat ausgespielt, vor allem dann, wenn weiter ein Einstimmigkeitsprinzip der 27 in der EU Außen- und Sicherheitspolitik herrscht. Die große polnische Adelsrepublik ging aus genau jenem Grunde auch schon 1795 zugrunde. 

Das Machtvakuum im Nahen Osten erlaubt – mit Ermutigung durch den Kreml – dem Mullah-Regime in Teheran, Stellvertreterkriege durch waffentechnisch abhängige Terrorgruppen wie die Hamas in Gaza, die Hizbollah im Libanon und die Huthi im Jemen risikofrei anzuzetteln. Nicht auszudenken, was passieren könnte, wenn das Regime über funktionsfähige Atomwaffen verfügte. Die Europäische Reaktion: allgemeine Zahnlosigkeit und die üblichen folgenlosen moralischen Appelle.

Dasselbe in der Sahelzone. All die schönen und teuren EU-Militärmissionen in Mali, Niger bis nach Zentralafrika, die der Bekämpfung des Al-Quaida-Terrors in der Sahara hätten dienen sollen, haben zu einem geführt: Die örtlichen Offiziere lernten, wie man einen Putsch durchführt, um selbst an die Futtertröge der Macht zu kommen. Hernach schmissen sie die saft- und kraftlosen Europäer unbedankt heraus und hießen die generöseren und nicht-moralisierenden Chinesen und Russen willkommen. Der nichtsnutzige Teil der männlichen Überschußbevölkerung wird dann von den Clanchefs und Dorfhäuptlingen zur Erwirtschaftung von Devisen auf Europareise geschickt. Dummheit und Dekadenz gehören bekanntlich gestraft. Westrom läßt grüßen.

Gibt es einen Ausweg? Ja unmittelbar: Waffenstillstand, Entmilitarisierung der umstrittenen Oblaste und der Krim, Uno-Blauhelme rein, Rückkehr der Flüchtlinge und Vertriebenen sowie nach einem Jahr Volksabstimmung und entsprechende Grenzziehung unter internationaler Aufsicht. Alles anno 1920 schon einmal dagewesen. Die Nato garantiert für die neuen ukrainischen Grenzen.

Sodann eine politische Wende im Europawahljahr 2024: Ein Ende der Selbstbezichtigungs-Unkultur des christlichen Abendlandes und die Schaffung eines europäischen Schutz- und Trutzbündnisses. Nur so konnten föderale Staatenbunde wie die Schweizer Eidgenossenschaft von 1291 oder der Deutsche Bund von 1815 funktionieren und überleben.