Als Ziel des Krieges galt gemeinhin der Frieden. Der Krieg, auch der Angriffskrieg, war für die Staatsmänner mit ihrer Staatsräson, wenn alle anderen Argumente versagten, bis 1914 das letzte, erlaubte und ehrbare, Mittel, um zwischenstaatliche Spannungen geregelt auszufechten und auf diesem Wege halbwegs zufriedenstellend zu beheben. Während des Ersten Weltkriegs verloren die kriegführenden Mächte ihre Fähigkeit zum Frieden. Den Vertrag von Versailles 1919 und die weiteren Pariser Vorortverträge nannte sofort der britische Offizier Archibald Wavel „a peace to end all peace“. Seitdem befindet sich die Welt in Unordnung. Insofern wirkt Herfried Münklers Parole „Welt in Aufruhr“, mit der er Aufmerksamkeit für seine Betrachtungen zu einer neuen Ordnung der Mächte erregen möchte, allzu schrill und melodramatisch. Wir haben uns doch spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, sehr bescheiden geworden, längst daran gewöhnt, die Abwesenheit des offenen Krieges für Frieden zu halten, der nicht durch verdeckte Kriege und alle möglichen Sanktionen gestört wird. Der Kalte Krieg wird mittlerweile im Westen zu einer Friedensordnung stilisiert, durchaus in der Absicht, eine Art Heimweh nach ihr zu wecken.
Herfried Münkler ist in Westdeutschland, in der westlichen Werte- als demokratischer Erlösungsgemeinschaft aufgewachsen. Für ihn, den so wahrhaften wie wehrhaften Demokraten, gibt es keine Alternative zum Westen als Leitidee und Lebensprogramm. Die Freiheit wandert seit jeher von Westen unaufhaltsam in den autoritären Osten, so hat die Vorsehung und die Weltvernunft den Gang der Geschichte bestimmt. Antiamerikanismus ist für ihn daher geschichtswidrig, unvernünftig, antisemitisch und unaufgeklärt. Er widerspricht dem westlichen Auftrag, die Lenden umgürtet mit demokratischer Wahrheit, gehüllt in den Panzer der Gerechtigkeit und das Schwert des Geistes schwingend, allen autoritären Mächten im Namen der Menschenrechte zu widerstehen und sie unschädlich zu machen.
Allerdings hat der Antiamerikanismus eine ehrwürdige Tradition, die weit zurückreicht bis hin zu den großen französischen Aufklärern. Sie waren sich darein einig, daß in Amerika der Mensch degeneriere und geistig verkümmere, zu keiner Leidenschaft fähig sei und deshalb völlig unbekannt mit der Freiheit und dem Enthusiasmus, den sie brauche. Nur das Schwein fände dort für sich und seine Lebensweise geeignete Bedingungen, so daß man besser von den verschweinten, statt von den vereinten Staaten reden sollte. Es war ein umständlicher Weg, bis die USA zu dem Ansehen gelangten, der tugendreiche Streiter für Gerechtigkeit und Menschlichkeit zu sein gegen die Verschwörungen von Despoten, die auf militärische Macht und nicht auf Worte vertrauen. Ohne diesen Retter und seine Verbündete kann die Welt keine Ruhe finden. Unter solchen Voraussetzungen fällt es sehr schwer, wie während der Konfessionskriege im 16. und 17. Jahrhundert, zu einer Verständigung zu gelangen und auf einseitige Unterwerfung, Abschwörung von Irrlehren und Umerziehung zu verzichten. Dieser mißliche Umstand beunruhigt Herfried Münkler.
Er beschäftigt sich mit verschiedenen hegemonialen oder imperialen Modellen und Systemen, die seit der Antike Ordnung zwischen Staaten und Räumen schaffen sollten, mit Idealtypen und theoretischen Möglichkeiten statt mit der jeweils konkreten historischen Situation. Davor hätte ihn Heinrich Triepels unerschöpfliches Werk „Hegemonie. Ein Buch von führenden Staaten“, 1943 erschienen, bewahren können. Herfried Münkler möchte in der „westfälischen Ordnung“, im Frieden von 1648, den gelungensten Versuch erkennen, eine aus den Fugen geratene Welt wenigstens in Europa zu ordnen. In den Verträgen von Münster und Osnabrück einigte man sich darauf, trotz abweichenden Glaubens und unterschiedlicher Grundsätze, sich nicht weiter wie einen gemeinen Verbrecher und Menschenfeind zu behandeln, von Gerechten, Ungerechten und vom einseitig gerechten Krieg zu reden. Der Krieg als Interessenkonflikt ist gerecht auf beiden Seiten, weil kein Staat seine Interessen vernachlässigen darf. Diese Übereinkunft erlaubte es, auf bedingungslose Kapitulation zu verzichten und von der Frage nach Kriegsschuld oder Kriegsverbrechen abzusehen, was bis 1914 eine solide Grundlage für das immer dramatische Zusammenleben von Staaten schuf.
Unmöglicher Friede mit einem kriminalisierten Schurkenstaat
Es war eine bedeutende Leistung, nicht mehr Freie und Tyrannen zu unterscheiden, vielmehr einander sittlich als gleichberechtigt, eben als gerecht anzuerkennen. Die „westfälische Ordnung“ ist allerdings eine Konstruktion anglo-amerikanischer Politologen, die vorzugsweise mit Systemen und Modellen basteln. Sie hat es nie gegeben. Die wichtigste Großmacht, nämlich Spanien, war gar nicht in diesen Frieden aufgenommen. Der Westfälische Friede regelte nur deutsche Angelegenheiten, in weiten Teilen sehr unzulänglich, so daß Kaiser und Reich von 1688 bis 1714 vor allem gegen Frankreich fast wieder dreißig Jahre Kriege führten, um tatsächlich zu einer europäischen Friedensordnung zu gelangen, in der auch Mitteleuropa und deutsche Interessen angemessen berücksichtigt wurden. Seit dem Frieden von Utrecht und Rastatt entwickelte sich im 18. Jahrhundert das „Konzert der fünf Großmächte“, in dem Österreich und Preußen ihren Platz einnahmen, die je auf ihre Weise dafür sorgten, in Mitteleuropa nicht von raumfremden Mächten bevormundet zu werden. Die Mitte Europas war gar nicht ohnmächtig, wie Herfried Münkler in Übereinstimmung mit anglo-amerikanischen Konstruktivisten meint.
Er sieht in der gemeinsamen Vorherrschaft der fünf Großmächte, in der Pentarchie, ein Modell für die Zukunft. Es mag heute vielleicht fünf Großmächte oder Großräume geben, aber es gibt keine Idee, auch nicht bei Münkler, auf welche Weise sie sich zu einer Gemeinschaft zusammenschließen könnten, um die Welt zu führen. Die europäischen Mächte waren in Wien 1814/1815 bereit, Frankreich, für Europas Ordnung unentbehrlich, mit dem sie fast dreißig Jahre Kriege geführt hatten, in ihren Kreis aufzunehmen, ohne moralische Vergangenheitsbewältigung zu betreiben. Unter fünf Mächten ist es am besten, zu dritt zu sein und damit in der Lage, Kompromisse erreichen zu können. Eine solche Konstellation ist heute und in Zukunft unmöglich, da Rußland als Schurkenstaat kriminalisiert wird. Rußland ist für Herfried Münkler, der an den Westen als Heiland und Retter von allen Übeln glaubt, der absolute Feind, der eine absolute Antwort wie vor 1648 verdient: Regimewechsel und Auflösung der Russischen Föderation.
Der Krieg gegen Rußland als westlicher Vernichtungskrieg gewinnt darüber die Weihe eines Heiligen Krieges. Wie soll man aber unter solchen Voraussetzungen zu einem Frieden finden? Herfried Münkler zweifelt nicht an einer Niederlage der russischen Imperialisten in der Ukraine. Was aber wird geschehen, wenn das böse Rußland den Krieg gewinnt, womit doch auch gerechnet werden muß? Napoleon und Hitler folgen oder einen neuen Krimkrieg führen, um das Reich der Finsternis ein für allemal zu vernichten? Der Westen ist keine Ordnungsmacht und vorerst nicht willens, eine planetarische Pentarchie mehrerer Großräume zu ermöglichen, nach der sich der unordentliche Ordnungsdenker dennoch sehnt.
Herfried Münkler: Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert. Rowohlt Verlag, Berlin 2023, gebunden, 535 Seiten, 30 Euro