Zum ersten Mal seit 2013 widmet die Zeitschrift zeitzeichen, das Organ der Evangelischen Kirche in Deutschland, wieder ein Themenheft (9/2023) der Bundeswehr und kassiert zum Auftakt des mit Sönke Neitzel dazu geführten Gesprächs prompt eine verbale Ohrfeige. Auf die Frage, ob es nicht allein schon ein „Zeichen für die erneute Militarisierung des Denkens in der deutschen Gesellschaft“ sei, wenn ein christliches Magazin sich nach so langer Zeit genötigt sehe, der Bundeswehr Aufmerksamkeit zu schenken, antwortet der Potsdamer Militärhistoriker, daß diese Frage eher ein „Zeichen“ sei, „in welcher Welt Sie sich als Zeitschrift bewegt haben“. Da die Redaktion es – im Einklang mit den obersten Funktionären und der Masse des rotgrün infiltrierten Kirchenvolks – geschafft habe, Krieg und Militär aus ihrer Wahrnehmung der Wirklichkeit auszublenden „und sich die Welt so zurechtzulegen, wie Sie sie gern hätten“.
Der Ausrede der Interviewer, mit ihrer Ignoranz doch nur dem pazifistischen Zeitgeist gehuldigt zu haben, fährt Neitzel ungewöhnlich scharf in die Parade. Wenn man diesen Opportunismus überhaupt als Entschuldigung akzeptieren wolle, dann gelte dies nur für die frühen 1990er. Nach dem Zusammenbruch des realexistierenden Sozialismus verbreitete sich tatsächlich temporär eine Stimmung, die auf das „Ende des Geschichte“ (Francis Fukuyama) spekulierte und hoffte, das globalisierte westliche System würde alle Kriege überflüssig machen.
Bundeswehr wurde allenfalls als bewaffnetes THW akzeptiert
Dabei waren Politiker, Soldaten und Bürger der alten Bundesrepublik – wie auch in der DDR – bis zum Mauerfall immun gegen solche Illusionen. Beide deutsche Staaten seien hochgerüstet, ihr Wille zur wehrhaften Selbstbehauptung ungebrochen gewesen. Die Bundesrepublik tat damals, was in der Berliner Republik bisher nur ansatzweise versprochen worden sei: sie gab sogar drei Prozent vom Bruttosozialprodukt für Rüstung aus. Und man solle zudem nicht vergessen, merkt der 1968 geborene Historiker an, daß trotz der Friedensbewegung die Mehrheit der Jahrgänge der Einberufung zur Bundeswehr gefolgt ist und die meisten Westdeutschen für den Nato-Doppelbeschluß votierten. Das Land und seine Regierungen hätten den Verteidigungsauftrag also trotz kritischer Debatten „sehr ernst genommen“.
Diese gesunde Einstellung zu Militär und Landesverteidigung änderte sich erst mit der vermeintlichen Rückkehr des wiedervereinigten Deutschlands in die „Welt der großen Mächte“ (Ranke). Eine historisch ungebildete politische Klasse, die aus der Geschichte nichts gelernt habe, vertraute darauf, von Freunden umzingelt zu sein. Um in ihrem Wolkenkuckucksheim daraus fatale Konsequenzen zu ziehen: „Wir haben 2001 die Bündnis- und Landesverteidigung de facto aufgegeben und gleichzeitig auch die Strukturen abgeschafft, um in einem Eventualfall das Land oder das Bündnis wieder verteidigen zu können. Man hat die Wehrpflicht ausgesetzt und die Kreiswehrersatzämter, Kasernen und Depots gleich mit.“ Die Bundeswehr operierte fortan auf „Stabilisierungsmissionen“ in Übersee als eine Art bewaffnetes Technisches Hilfswerk (THW). Lediglich in dieser Form schien ihre Notwendigkeit der Bevölkerung vermittelbar gewesen zu sein. Folglich habe man heute mit Streitkräften, die mit Heer, Luftwaffe und Marine wirklich „blank“ dastünden, „riesige Schwierigkeiten“, auf die Rückkehr des Krieges nach Europa zu reagieren.
Schlimmer jedoch seien die geistig-mentalen Auswirkungen dieser schleichenden Demobilisierung. Offenkundig habe sich seit 1990 im kollektiven Bewußtsein der Deutschen die Überzeugung verfestigt, Beziehungen zwischen Staaten könnten nicht von existentiellen Freund-Feind-Konstellationen bestimmt werden. Was im Ernstfall, wie der in der Wolle gefärbte Atlantiker Neitzel unter Verweis auf den Ukrainekrieg warnt, „natürlich heißt zu töten, alles andere ist Augenwischerei“.