In Vejas G. Liulevicius’ „Kriegsland im Osten“ (2002), der vielbeachteten Darstellung des sich seit 1914 auf dem Territorium des Zarenreiches, in Polen und im Baltikum, entfaltenden Weltkriegsgeschehens, ist dieses Kapitel deutsch-russischer Beziehungsgeschichte nur ein Vorspiel der späteren NS-„Lebensraum“-Politik im Osten. Der Osteuropahistoriker Tim Buchen (TU Dresden) öffnet mit seiner Untersuchung der zwischen 1885 und 1919 im Baltikum projektierten und teilweise realisierten deutschen Siedlungsprogramme hingegen ein größeres Zeitfenster und rekonstruiert andere „Kontinuitäten“ (Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 7/8-2023). Demnach fügt sich die 1918 geborene Idee, reichsdeutsche Freikorpskämpfer mit dem Versprechen auf Landeigentum nach Kurland und Livland zu locken, um dort gegen die bolschewistische Rote Armee zu kämpfen, eher in den Kontext der Inneren Kolonisation ein, wie sie Rußland und Preußen-Deutschland gleichermaßen in den instabilen multiethnischen „Verwerfungszonen“ ihrer Grenzregionen vorantrieben. Allein zwischen 1906 und 1914 konnte die „Landgesellschaft Kurland“ daher 12.000 Kolonisten aus Wolhynien in die russischen Ostseeprovinzen umsiedeln. „Fremde“, die Rußland, wo Angst vor einem Kontrollverlust in den Westgebieten herrschte, gern ziehen ließ.