© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/24 / 12. Januar 2024

„Laß ab vom Bösen!“
Kino II: Der Spielfilm „15 Jahre“ ist die Fortsetzung des Sensationserfolgs „Vier Minuten“. Aber war die wirklich nötig?
Dietmar Mehrens

Von soziokultureller Korrektheit hält Jenny von Loeben (Hannah Herzsprung) genauso wenig wie davon, sich auf die Zunge zu beißen, wenn ihr etwas nicht paßt. „Kannst du ihm sagen, daß er erst mal Deutsch lernen soll, bevor er mich vollquatscht?“, mault sie, als ihr ein syrischer Flüchtling vorgestellt wird. Ihre kompromißlose Unangepaßtheit war schon bei Jennys Leinwanddebüt 2006 das Salz in der Suppe. Es hieß „Vier Minuten“ und wurde zu einem Sensationserfolg, der über sechzig Preise einheimste. Grund genug, mag sich Autor und Regisseur Chris Kraus gesagt haben, Jenny noch einen zweiten großen Kinoauftritt hinlegen zu lassen: nach „Vier Minuten“ nun also „15 Jahre“.

Inzwischen ist viel passiert – nicht nur im Bereich der politischen Korrektheiten, die sich gehäuft auf Kinoleinwänden austoben, sondern auch in Jennys Privatleben: Sie saß 15 Jahre lang im Gefängnis, weil sie den Vater ihres damaligen Lebensgefährten umgebracht haben soll. Letzterer ist inzwischen unter dem Künstlernamen Gimmiemore zu einer schillernden Berühmtheit geworden und als Dieter-Bohlen-Epigone mit der Unterhaltungssendung „Unicorn – Talent kennt keine Grenzen“ erfolgreich. Jenny, früher mal „die größte musikalische Hoffnung des 21. Jahrhunderts“, ist inzwischen beim „Team Jesus“, einer diakonisch betreuten Wohngruppe, und die christliche Ballade „Ins Wasser fällt ein Stein“ die größte musikalische Herausforderung, der sie sich stellen muß. Als Broterwerb dient der hochbegabten Pianistin die Betätigung als Putzfrau.

Die Produktion ist gnadenlos überfrachtet und viel zu lang

Jenny ist kaum aus der Haft entlassen, da sorgt sie mit einem tätlichen Angriff auf einen Polizisten schon wieder für Ärger. Der Beamte hatte vor ihren Augen einen Löwen erschossen, um ihr das Leben zu retten. Aber gerettet werden, das wollte Jenny noch nie. Wie bereits in ihrem ersten Filmabenteuer wehrt sie sich energisch gegen alle entsprechenden Versuche. Der neueste stammt von Harry Mangold (Christian Friedel), der einst mit ihr im selben Wettbewerb stand: Er will Jenny überreden, bei der TV-Talent-Show „Unicorn“ im Duett mit dem armamputierten Bürgerkriegsopfer Omar (Hassan Akkouch) aus Syrien aufzutreten. Die Diakonin Frau Markowski (Adele Neuhauser), die die Einrichtung leitet, in der Jenny betreut wird, findet die Idee gut. „Sie müssen Dinge tun, um sich die Dunkelheit vom Leib zu halten“, meint sie. Jennys Taufspruch fordere sie auf, den Menschen ein Segen zu sein. Kollegin Wolke haut in die gleiche Kerbe und hält Jenny die Worte aus dem 34. Psalm vor: „Laß ab vom Bösen und tu Gutes; suche Frieden und jage ihm nach!“ Zu all den christlichen Symbolen und Bibelsprüchen, die „15 Jahre“ fast zu einer Predigt machen, gesellt sich dann noch Samuel Koch, das fromme Unfallopfer aus „Wetten dass ..?“, inzwischen bekannt als Schauspieler und Autor des Bucherfolgs „Samuel Koch – Zwei Leben“ (2012). Er hat im Film einen Gastauftritt als an den Rollstuhl gefesselter Kollege des „Unicorn“-Moderators Gimmiemore. Als Jenny herausfindet, wer Gimmiemore ist, nämlich ihr ehemaliger Geliebter und damit der Mann, für den sie 15 Jahre im Gefängnis saß, ändert das natürlich alles. Jenny will Rache.

„Vergebung bedeutet, jede Hoffnung auf eine bessere Vergangenheit aufzugeben.“ Dieser kluge Aphorismus ist dem Film als Motto vorangestellt. Hätte sich Autor und Regisseur Chris Kraus mal auf diese christliche Thematik konzentriert! Aber Schuld und Vergebung bilden nur einen unter vielen Themenblöcken, die der Film abarbeitet und die in ihrer Masse den Eindruck erwecken, als hätte Kraus in ein einziges Drehbuch alles gepackt, was ihn in den letzten Jahren beschäftigt hat. Die Produktion ist gnadenlos überfrachtet und infolgedessen mit zweieinhalb Stunden auch viel zu lang. Bewegende Momente, für die neben Hauptdarstellerin Hannah Herzsprung und ihrem Filmpartner Hassan Akkouch auch der brillante Albrecht Schuch in der Rolle des Gimmiemore sorgen, gibt es zwar jede Menge; wieder darf Herzsprung bei passender Gelegenheit kräftig in die Tasten hauen. Doch bis zum Schluß bleibt unklar, was für einen Film Chris Kraus eigentlich machen wollte: eine Satire auf „Deutschland sucht den Superstar“, einen Musikfilm, eine Schuld-und-Sühne-Geschichte, das Porträt einer psychisch kranken Hochbegabten, ein Migrantendrama, einen Imagefilm für die Sozialarbeit der EKD oder ein Plädoyer für Menschen mit Behinderung. „15 Jahre“ ist das alles und noch viel mehr und damit definitiv zu viel.