© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/24 / 12. Januar 2024

Geokulturelle Deutungsmuster bei Mann, Döblin, Hesse
Nützliche Vorurteile

Als „Geocodes“ werden geokulturelle Deutungsmuster bezeichnet, die Ideen, Vorstellungen und Werte fest mit geographischen Räumen verknüpfen. Spätesten mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs, einem „Krieg der Kontinente“ (Sven Hedin), hatten sie Hochkonjunktur. Sie bestimmten nicht nur den geschichtsphilosophischen und geopolitischen „Diskurs des Globalen“, wie er in Deutschland von Oswald Spengler und Karl Haushofer dominiert wurde, sondern zunehmend auch die „Schöne Literatur“. Wie der Germanist Benjamin Gittel (Göttingen) am Beispiel von Thomas Manns „Der Zauberberg“ (1924), Alfred Döblins „Berge Meere und Giganten“ (1924) und Hermann Hesses „Der Steppenwolf“ (1927) nachweist. In diesen drei Romanen formulieren deren Protagonisten ihr Selbst- und Weltbild mit Hilfe geographischer Makrokategorien und Dichotomien wie Europa, Amerika, Asien, Afrika, Ost und West. Der Osten steht bei Mann und Hesse für Religion und Mystik, Europa für Rationalität und technologischen Fortschritt, Amerika für Vermassung und Kapitalismus, der von Döblin ins 27. Jahrhundert n. Chr. versetzte, das weiße Europa qua Masseneinwanderung zerstörende, höchst widersprüchlich aufgefaßte „jugendliche“ afrikanische Süden sowohl für Barbarei wie auch für die Kraft zur „Wiederverzauberung der Welt“. Obgleich heute politisch korrekt als „rassistisch“ verpönt, seien die kollektive Wahrnehmungen leitenden, Verhalten motivierenden „Vorurteile“ und „Stereotypen“ der Geocodes zur „Verhandlung  kultureller Identität“ weiterhin von ungebrochener Relevanz. Haben sie doch das Potential, eine komplexe Welt übersichtlicher zu machen (KulturPoetik, 2/2023).


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