© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/24 / 12. Januar 2024

Nicht enden wollende Moskauer Ressourcen
Ukraine-Krieg: Nur Infanteristen können noch Durchbrüche erkämpfen / Russische Angriffe auf weit im Hinterland liegende Ziele intensiviert
Paul Leonhard

Das Jahr hat gut begonnen. Zumindest aus Sicht jener 478 Gefangenen und deren Angehörigen, die auf Vermittlung der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) in ihre Heimat zurückkehren konnten: 248 Russen und 230 Ukrainer. Unter letzteren sollen sich neben Zivilisten und einigen Frauen auch die Verteidiger von Mariupol und der Schlangeninsel befinden. Moskau sprach von einem „schwierigen Verhandlungsprozeß“, Kiew warf seinerseits dem Kriegsgegner vor, lange „blockiert“ zu haben. Auf beiden Seiten mußten die Freigelassenen medizinisch und psychologisch betreut werden.

Es ist eine der wenigen Nachrichten, die die beiden Kriegsparteien übereinstimmend bestätigt haben. Ansonsten liegt das tatsächliche Geschehen an der Front und im Hinterland eher im dunkeln. Was ist unter einer „harten Offensive“ Rußlands an der Ukraine-Front zu verstehen, von der beispielsweise die Frankfurter Rundschau schreibt? General Oleksandr Syrskyi, Kommandeur der ukrainischen Bodentruppen, sieht das am Sewerskij-Donez-Donbas-Kanal gelegene Tschassiw Jar als nächstes Ziel der russischen Bodenoffensive. Die Kleinstadt ist ein Nachbarort des lange umkämpften Bachmut. Von den einst rund 13.000 Einwohnern sind bis auf 1.500 alle geflüchtet.

Insbesondere in Richtung Bachmut würden die heftigen Kämpfe in der Nähe der Siedlung Bohdaniwka fortgeführt, so Syrskyi. Ins Kampfgeschehen ist auch die bereits 2014 umkämpfte, etwa 15 Kilometer nordöstlich vom Zentrum von Donezk gelegene Kleinstadt Awdejewka gerückt, die die Russen im vergangenen November vergeblich zu stürmen versuchten. Auch versuchen die Russen, die ukrainischen Brückenköpfe am linken Ufer des Dnepr zu liquidieren. Allein am vergangenen Donnerstag wurden nach Berichten des ukrainischen Generalstabs sechs Angriffe abgewiesen.

Gleichzeitig haben die Russen ihre Angriffe auf weit im Hinterland liegende Ziele intensiviert. Dabei handelt es sich nach Angaben des russischen Präsidenten Wladimir Putin auch um eine Reaktion auf ukrainische Luftattacken auf die russische Stadt Belgorod, bei denen 25 Menschen starben. Von einem Strategiewechsel spricht Militärexperte Gustav Gressel von der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (CFR). Rußland setze nicht mehr auf viele Einzelangriffe, mit 40 bis 60 Raketen, sondern konzentriert seine Angriffe aus der Luft: einmal waren es 100, das andere Mal rund 135 Raketen.

Ukrainische Luftangriffe vor allem auf die Halbinsel Krim

Der Krieg ist weiterhin eine willkommene Gelegenheit für Waffenbauer in aller Welt, ihre Produkte unter Gefechtsbedingungen zu testen. So hat Nordkorea – der Süden des geteilten Landes unterstützt die Ukraine mit Waffenlieferungen – nach US-Informationen ballistische Raketen (Reichweite etwa 900 Kilometer) einschließlich Abschußrampen an Rußland geliefert und mehrere dieser Flugkörper unter anderem auf Kiew abgefeuert. Pjöngjang und Moskau würden aus diesen Einsätzen lernen und die Waffen dann weiter verbessert einsetzen. Derweil fordert die Ukraine von ihren Verbündeten die schnelle Lieferung von Luftverteidigungssystemen sowie Angriffswaffen wie Marschflugkörper, Drohnen und Raketen. Ziel der ukrainischen Luftangriffe ist vor allem die Halbinsel Krim und dort Sewastopol und Jewpatorija.

Rußland setzt seit neuestem auch Hyperschallraketen des Typs Ch-47M2 Kinschal (Nato-Code: AS-24 Killjoy) ein, die für die Ukraine nur schwer abzufangen sind, aber für Moskau in der Herstellung sehr kostenaufwendig sind, so daß auch hier der Praxistest wichtiger ist als der militärische Erfolg. Die als „Wunderwaffe“ gepriesene Kinschal sei „im Grunde auch nur eine ballistische Rakete, die an ein Flugzeug gehängt wird, damit sie ihre Reichweite und ihre Endgeschwindigkeit leicht verbessert“, findet Militärexperte Gressel. Andererseits seien „die russischen Ressourcen nicht enden wollend“.

Klassische Offensiven, bei denen geballte Panzerdivisionen den Durchbruch erzielen, seien in der Ukraine nicht möglich, da jegliche Truppenkonzentrationen durch Drohnen schnell aufgeklärt und dann entweder durch Luftangriffe oder weitreichende Artillerie zerschlagen werden können. An der Front ankommende Panzerbataillone seien dann schon so dezimiert, daß sie keine Chance für einen Durchbruch mehr hätten. Geländegewinne, so Gressel, seien nur mit Infanterie nach gründlicher Artillerievorbereitung möglich, und auch da handelte es sich bestenfalls um ein paar hundert Meter am Tag. So berichtet das britische Verteidigungsministerium von „allmählichen, lokalen Vorstößen Rußlands an wichtigen Frontabschnitten“ über den Jahreswechsel. In der Südukraine hätten russische Luftlandetruppen „wahrscheinlich“ minimale Fortschritte erreicht. Offenbar sind aber auch die russischen Fallschirmjäger nicht mehr in der Lage, hinter der Frontlinie offensiv zu werden.

Letztlich lernen nicht nur die Ukrainer und Russen, sondern Militärstrategen in der ganzen Welt – die allerdings dafür keinen Blutzoll bezahlen müssen, wie Drohnen optimal eingesetzt werden, wie elektronische Kampfführung in den Kampf der verbundenen Waffen eingebettet wird – zumindest solange die Satellitenaufklärung aus dem Weltall nicht gestört wird.

Hyperschallrakete Ch-47M2 Kinschal:

 missilethreat.csis.org

 www.cfr.org