© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/24 / 05. Januar 2024

Woke Werber und ihr Sendungsbewußtsein
Oliver Errichiello analysiert, warum die Werbung sich immer mehr am Zeitgeist als am Produkt orientiert
Michael Dienstbier

Welche Gesellschaft soll das abbilden?“, fragte der grüne Freigeist Boris Palmer 2019 auf seinem Twitter-Konto und brachte damit mal wieder die Republik in Wallung. Die Frage bezog sich auf eine Werbekampagne der Deutschen Bahn, die aus einer Folge von fünf Bildern entspannt im Zug sitzender Menschen bestand. Nur eine Person war weiß, alle anderen dunkelhäutig. Für die einen hatte sich Palmer endgültig als Rassist entlarvt, für die anderen war er der Verkünder unbequemer Wahrheiten, und nach ein paar Wochen gegenseitiger Vorwürfe, Rechtfertigungen und Beleidigungen wandte sich die Republik dem nächsten Pseudoskandal zu. 

Doch Palmers sicherlich in provozierender Absicht formulierter Einwand ist aktueller denn je, und die Plakate der Bahn wirken in der Rückschau gesellschaftspolitisch eher harmlos im Vergleich zu den Kampagnen, die seitdem von den Werbemachern entwickelt worden sind: „Coca-Cola wendet sich gegen Haß, Pepsi gegen Polizeigewalt. Eiscreme von Ben & Jerrys steht an vorderster Front bei Black Lives Matter. Patagonia ruft dazu auf, keine ‘Assholes’ zu wählen. Fritz-Kola mag Präsident Erdoğan nicht und Krombacher rettet den Regenwald“, formuliert der Publizist und Markensoziologe Oliver Errichiello in seinem neuen Buch „Werbung für den Zeitgeist“. Werbung, so die zu Beginn formulierte These des Autors, werde immer politischer, wohingegen sich die Politik immer mehr die Methoden und Mechanismen erfolgreicher Werbekampagnen zunutze mache. Errichiello analysiert die Hintergründe dieser Entwicklung und begründet, warum er diese Anbiederung an den Zeitgeist aus Sicht der Unternehmen für geschäftsschädigend hält.

Der Fokus des Buches liegt auf der inneren Verfaßtheit der Werbebranche. Wer arbeitet dort? Wie wurden die Mitarbeiter sozialisiert? Wie ticken sie politisch? In welchen Abhängigkeitsverhältnissen steht die Branche? Und vor allem: Welchen Einfluß haben all diese Faktoren auf die Genese konkreter Werbekampagnen? Die Annäherung der Politik an die Methoden der Werbebranche spielt hingegen nur eine untergeordnete Rolle und wird von Errichiello lediglich im abschließenden Kapitel kurz abgehandelt. Diese Prioritätensetzung entspricht seinem beruflichen Werdegang, schrieb er doch 2012 seine Promotion über „Markensoziologische Werbung“.

Errichiello sieht die Werbebranche von der Überzeugung getrieben, einem Produkt ein bestimmtes „Image“ zuschreiben zu müssen. Sobald man etwa ein Auto, ein Waschmittel oder eine Biersorte mit einem positiv konnotierten Lebensgefühl verbinde, sei wirtschaftlicher Erfolg garantiert. Errichiello bezieht klar Stellung gegen diesen Irrglauben. Es sei immer noch die Leistung eines Produkts, die dessen langfristigen Erfolg sicherstelle. Eine Marke entstehe, „wenn spezifische Leistungen mit einem Namen verbunden werden – nicht nur heute, sondern auch morgen.“ Biedert sich nun ein Unternehmen an den woken Zeitgeist an, beschädige es dadurch seine Marke und somit seinen ökonomischen Erfolg, falls es keinen klar erkennbaren Zusammenhang zwischen Produkt und Kampagne gebe. Ein Beispiel hierfür ist der Fall der einst populären Biermarke Bud Light in den USA, die mit Dylan Mulvaney – ein Mann, der sich für eine Frau ausgibt – warb und deren Umsätze anschließend massiv einbrachen.

Warum handeln Unternehmen immer öfter gegen ihr eigenes Interesse, indem sie ihre Marke durch zeitgeistige Kampagnen gefährden? An dieser Stelle rezipiert Errichiello den britischen Publizisten David Goodhart, der 2017 eine Aufteilung der Gesellschaft in Somewheres und Anywheres erkannte. Die Werbebranche bestehe ausschließlich aus Anywheres – eher jung, hohe Bildungsabschlüsse, gutverdienend, transnational denkend, progressiv –, was sich auch in deren Wahlverhalten abbilde. Knapp 55 Prozent würden die Grünen wählen, so Errichiello eine Tendenz-Studie aus dem Jahr 2022 zitierend. Die CDU landet hier bei sechs Prozent, die AfD bei null Prozent. Die woken Werbekampagnen der Gegenwart entspringen, so der Autor, nicht zuvorderst opportunistischen Unternehmen, die aufgrund ideologischer Wohlgefälligkeit den schnellen Euro machen wollen, sondern dem Sendungsbewußtsein der Werbebranche, die ihre Kunden dazu brächten, gegen das eigene ökonomische Interesse zu handeln.

Weist der Autor der Werbebranche nicht zu viel Macht zu? Hat nicht jedes Unternehmen ab einer bestimmten Größe seine eigenen Marketingexperten, die in der Lage sein sollten, mittel- und langfristig zu denken? Oder ist es die Angst vor einem sich anbahnenden woken Totalitarismus, die die Unternehmen dazu bringt, auf Umsatz zu verzichten, um nur nicht in das zerstörerische Visier einer bunten Hetzkampagne zu geraten? Das Buch liefert einen fundierten Einblick in das Innenleben der kleinen Minderheit der Werbeschaffenden, die qua Reichweite einen kaum zu überschätzenden Einfluß auf die Gestaltung unser aller Alltagsleben haben. Der Autor verpaßt jedoch die Möglichkeit, die politisch-ideologischen Mechanismen seiner Analyse herauszuarbeiten. Dem Zeitgeist dienende Werbekampagnen sind nichts anderes als Propaganda, wie Jacques Ellul in seinem 1962 erschienenen Klassiker „Propaganda“ analysierte. Propaganda sei total, allgegenwärtig, richte sich an den einzelnen und verbreite bestimmte Werte, so Ellul. Diesen theoretischen Ansatz zugrunde legend, hätte sich eine genaue Untersuchung der Werbebranche mit dieser Schwerpunktsetzung durchaus angeboten. Eine solche Fortsetzung aus der Feder Errichiellos wäre sicherlich die Lektüre wert.

Oliver Errichiello: Werbung für den Zeitgeist. Wenn bunte Kampagnen in Wirtschaft und Politik die Wirklichkeit ignorieren. Verlag Langen Müller, München 2023, gebunden, 240 Seiten, 22 Euro