Früher war mehr Lametta! Mit Loriots Diktum hätte auch der Historiker Manfred Hettling (Halle-Wittenberg) seinen Vergleich zwischen den staatlich organisierten Gedenkveranstaltungen betiteln können, die 1998 und 2023 zur Erinnerung an die Märzrevolution von 1848 stattgefunden haben (Merkur, 10/2023).
Denn zum 150. Jubiläum von 1848 sei „einfach mehr los gewesen“, stellt Hettling mit Blick auf die vielfältigen Veranstaltungen fest, die geprägt waren durch bis dahin in Deutschland nicht übliche, reichlich schwarz-rot-goldene Folklore bemühende „populare Formen“, die die Gedenkkultur einer „Erlebnisgesellschaft“ zelebrierten. Die entfaltete sich flächendeckend allerdings nur im Südwesten, während es in der übrigen Republik akademischer zuging und es dort sogar „weitgehend revolutionsstill“ blieb. Zudem setzte die Politik deutliche Zeichen gegen allzuviel „Revolutionsfolklore“. So weigerte sich der damalige Bundespräsident Roman Herzog, an einem anderen Ort als in der Paulskirche zu sprechen. Nur die von 1848 begründete parlamentarische Tradition wollte er würdigen, nicht die „gewalthaften Proteste“ des Volkes.
1848 gegen Rechtspopulismus in Stellung bringen
Dagegen sei 2023 nicht nur „der gesamte Festbetrieb deutlich geringer ausgefallen“ als 1998. Die Reden des heutigen politischen Personals hätten den nach Gutsherrenart die deutsche Geschichte traktierenden Herzog auch darin weit übertroffen, daß sie mit „gnadenloser Direktheit“ Teilaspekte des Geschehens von 1848/49 aktualisierten und so den vollständigen Schwund ihres historischen Bewußtseins bezeugten. Berlins stellvertretende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) forderte etwa, erinnerungspolitisch endlich die „weibliche Gleichstellung“ zu vollziehen und schlug den Bogen zur Unterdrückung von Frauen im Iran, während Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) unterschiedslos Anhänger und Gegner der parlamentarischen Demokratie, Heinrich von Gagern und Friedrich Hecker, als „Wegbereiter unserer Demokratie“ heroisierte. Und der ranghöchste Geschichtsklitterer, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) jonglierte einmal mehr mit „demokratisch titulierten Vergangenheitsbestandteilen“, um sie für eine „direkte und ungefilterte Legitimation der Gegenwart“ in den Dienst zu nehmen, wobei niemand überhören konnte, daß er die Barrikadenkämpfer von 1848 „gegen den Rechtspopulismus“ in Stellung bringen wollte. Dabei sprach er, wie auch sonst im bundesdeutschen Erinnerungsdiskurs üblich, „erstaunlich wenig“ von der Nation, die doch für das Denken der 1848er so zentral war. Offenbar habe die historisch ungebildete politische Klasse in ihrem Wunsch, die Gegenwart selektiv und „heilsgeschichtlich“ als Erfüllung von früher Begonnenem zu begreifen, Ralf Dahrendorfs Erkenntnis vergessen, daß ohne die Nation als Rahmen langfristig keine erfolgreiche Demokratisierung stattfinde.