Weltkriege“ zeichnen sich schon vom Wortsinn her dadurch aus, als globale Auseinandersetzung geführt zu werden. Dies ist logisch. Sie haben aber zusätzlich das Merkmal, aus einer ganzen Anzahl von Konflikten zu bestehen, von denen manche zwar zeitgleich stattfinden, aber nicht unbedingt ursächlich miteinander verbunden sind. So gibt es Historiker, die den eigentlichen „Ersten“ Weltkrieg in der britisch-französischen Auseinandersetzung des 18. Jahrhunderts sehen. Diese wurde auf allen Weltmeeren und fast allen Kontinenten ausgetragen. Mit hinein traten dann später auch noch die noch jungen Vereinigten Staaten, während in Europa die von Britannien gestützten Preußen mit Frankreich, Österreich und Rußland einen Unterkonflikt dazu ausfochten, der hierzulande als der Siebenjährige Krieg bekannt ist. Es ist eine Frage der Perspektive.
Bis zum Sieg stünde man mit der kapitalistischen Umwelt im Konflikt
Sean McMeekin, Professor am New Yorker Bard College, macht für die allgemein als „Zweiter Weltkrieg“ bekannten Kämpfe vor allem der Jahre 1939 bis 1945 eine originelle Perspektive auf. Er schildert ihn als „Stalins Krieg“, aus der Perspektive des Machthabers in der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken also. In einem einleitenden Abschnitt mit dem Titel „Wessen Krieg?“ sucht er einen gemeinsamen „globalen Nenner“ für diese Phase der eigentlich „von 1931 bis 1945“ andauernden Kriege. Diese hätten im Prinzip sogar noch länger angedauert. In Osteuropa habe der Krieg bis 1989 angehalten, und die Kriegsführung der UdSSR sowie der sowjetische Terror hätten viel deutlichere Spuren hinterlassen als die kurzzeitige deutsche Besatzung. Die Machtergreifung der Kommunisten in China läßt sich ebenfalls schwerlich ohne die Unterstützung aus dem Kreml vorstellen, so daß auch Ostasien von den Nachwirkungen der sowjetischen Kriegsbeteiligung jahrzehntelang mitgeprägt wurde.
An diesen Kriegen beteiligte sich die UdSSR unter Stalin unter Bruch sämtlicher von ihr geschlossener Friedensabkommen und Nichtangriffspakte, bis sie schließlich am Ende auch noch 1945 Japan vertragsbrüchig angriff. Es gibt also zahlreiche Gründe für eine „neue Geschichte des Zweiten Weltkriegs“ aus der Perspektive Josef Stalins, dessen Person und Machtposition in den Jahren etwa von 1923 bis 1953 sich als der gesuchte gemeinsame Nenner herausstellt. Das schließt automatisch eine Abkehr von der „anhaltenden Hitler-Lastigkeit“ der historischen Literatur über den Zweiten Weltkrieg ein, wie McMeekin anmerkt.
Stalins Sicht auf die Weltpolitik sieht McMeekin stark vom dialektischen Denken des Marxismus-Leninismus geprägt. Das sei im Prinzip auch nicht schwierig zu ermitteln, sondern gehe aus Reden, Aufzeichnungen und Anordnungen durchgängig hervor. Anders als eben bei Hitler, über dessen Persönlichkeit und Motive ganze Berge von Literatur entstanden seien, seien die Motive bei Stalin klar. Es ging ihm letztlich um die Weltrevolution, deren vollständiger Sieg erst imstande sein würde, die kapitalistisch-kommunistische Dialektik aufzuheben. Bis dahin stünden die Marxisten und damit die Sowjetunion gegen die kapitalistische Umwelt in einem dauernden Konflikt. Vor allem aber würden die Kapitalisten immer wieder und unvermeidlich untereinander in Streit geraten, wegen Kapitalinteressen, Rohstoffen und Absatzmärkten. Diese Konflikte gelte es dann für die UdSSR auszunutzen.
Und genau so deutete Stalin gegenüber dem Chef der Kommunistischen Internationale am 7. September 1939 den gerade ausgebrochenen europäischen Krieg: „Der Krieg wird zwischen zwei Gruppen kapitalistischer Staaten (armen und reichen in bezug auf Kolonien, Rohstoffe usw.) um die Aufteilung der Welt und um die Weltherrschaft geführt. Wir haben nichts dagegen, wenn sie ordentlich gegeneinander Krieg führen und sich gegenseitig schwächen. Es wäre nicht schlecht, wenn durch die Hand Deutschlands die Position der reichsten kapitalistischen Länder (besonders Englands) zerrüttet werden würde. Ohne es zu wissen und zu wollen, untergräbt Hitler das kapitalistische System. Wir können manövrieren und die eine Seite gegen die andere aufhetzen, damit sie sich um so heftiger gegenseitig zerfleischen. Der Nichtangriffspakt hilft Deutschland in gewisser Weise. Bei nächster Gelegenheit muß man die andere Seite aufhetzen.“
In diesem Sinn handelte Stalin dann in den Folgejahren. Er griff 1939 Finnland an, was die Alliierten in ihren sowieso vorhandenen Invasionsabsichten in Skandinavien bestärkte. Er ließ durch große Öllieferungen an Deutschland dessen Westfeldzug erleichtern und nützte den dortigen deutschen Erfolg, um in dessen Rücken die baltischen Länder und Teile Rumäniens zu besetzen. Gleichzeitig stärkte er aber den britischen Kampfeswillen und begünstigte die von London geplante Kriegsausweitung nach Südosteuropa im Frühjahr 1941, während die Lieferungen an Deutschland allen anderslautenden Gerüchten zum Trotz inzwischen mehr und mehr stockten. Schließlich stand im Sommer 1941 der ultimative Akt an, die Offensive der Roten Armee gegen Mitteleuropa und Deutschland. Diese mißlang. „Im Kampf der Titanen schlug Hitler zuerst zu“, kommentiert McMeekin diesen Vorgang eher trocken.
Nach seinen eigenen Maßstäben scheiterte Stalin
Danach geriet Stalin phasenweise in die mißliche Lage, durch gigantische Waffen- und Materiallieferungen aus den USA gerettet werden zu müssen. Es gab jedoch auch in Washington genug marxistisch angehauchte Überzeugungstäter, sowjetische Agenten und zugleich nüchternes Kalkül, um diese Lieferungen sicherzustellen. Je stärker der russisch-deutsche Konflikt angeheizt werden konnte, desto weniger Einsatz an eigenen Menschenleben mußten die Westmächte für den Endsieg bringen. McMeekin schildert diese Vorgänge ausführlich, die in Washington manchen im nachhinein trotzdem sehr peinlich waren.
Stalins allzu bauernschlaue Strategie führte letztlich dazu, daß die Sowjetunion im Krieg für die Kapitalisten „die Kastanien aus dem Feuer holen mußte“, was er im Frühjahr 1939 mit genau dieser Formulierung noch ausgeschlossen hatte. Ostasien und Osteuropa konnten zwar unter marxistisch-stalinistische Kontrolle gebracht werden. Von der Weltrevolution blieb man aber jederzeit weit entfernt. Nach eigenen Maßstäben scheiterte Stalin also, und die mit massiver westlicher Hilfe aufgebaute sowjetische Wirtschaft überlebte den kalten Konflikt mit dem Kapitalismus auf Dauer nicht. Was blieb, war eine Weltkriegsära, die von Stalins Namen und marxistischen Machtansprüchen wesentlich als solche geprägt wurde. Das Buch ist ihren Opfern gewidmet.
Sean McMeekin: Es war Stalins Krieg. Wie der Diktator die Eroberung Europas und Ostasiens plante. Druffel & Vowinckel Verlag, Gilching 2023, gebunden, 680 Seiten, Abbildungen, 49 Euro