Alles begann so unscheinbar und trivial.Am 14. Juni 1931, mitten in der Weltwirtschaftskrise, empfing ein mißgelaunter Geflügelzüchter, der gerade eine Grippe auskurierte, einen blassen Offizier der kleinen Reichsmarine, der nach einer neuen Beschäftigung suchte. Der Ankömmling überragte den Hausherrn mit knapp 1,90 Metern um Haupteslänge. Zudem sah er aus wie aus einem germanischen Bilderbuch: blond, drahtig, sportlich und mit Augen wie aus Stahl. Was den Hausherrn aber elektrisierte: Der Arbeitssuchende stellte sich als Nachrichtenoffizier vor. Das war zwar nur eine Umschreibung für das Fernmeldewesen der Zeit. Aber es klang nach Geheimdienst und Überwachung. Es war genau das, wonach Heinrich Himmler gerade Ausschau hielt. Er ließ seinen Besucher für eine Viertelstunde allein und forderte ihn auf, den Organisationsplan für einen Sicherheitsdienst zu entwerfen.
Als er zurückkehrte, hatte der Unbekannte ein komplettes Organigramm zu Papier gebracht. Zusammengeschustert hatte er es nach seinen Erinnerungen an Kriminal- und Spionageromane, die er als Jugendlicher verschlungen hatte. In diesem papierenen Netzwerk der Ausspähung fehlte nichts. Es gab ein Amt für die innere Gegnererforschung, gegliedert in Freimauer, Juden, Marxisten, Kirchen, Presse, wirtschaftliches und kulturelles Leben; eines für die Ausspähung der ausländischen Mächte; eines für Volkstumsarbeit, Rasse und Volksgesundheit. Und auch die Abteilungen für Agentenausbildung, Personalwesen, Archiv und Sonderaufträge hatte er nicht vergessen. Diese Begegnung in Waldtrudering, einem Vorort von München, wurde zur ersten Treppenstufe für eine der steilsten Karrieren im NS-Deutschland. Sie machte den entlassenen Oberleutnant zur See zum Inbegriff für Terror und Tod, dessen Weg bald von Millionen Opfern gesäumt wurde.
Sein maliziöser Aufstieg brachte ihm schon zu Lebzeiten unrühmliche Etiketten ein. Der „Mann mit dem eisernen Herzen“, so hieß er in der Umgebung des „Führers“. Der „junge, böse Todesgott“, in dem der Nationalsozialismus sich selbst begegnet, so das Urteil eines Zeitgenossen. Der „Oberverdachtschöpfer“, so Himmler persönlich, zerfressen von Mißtrauen und ein Quell unerschöpflicher Ausforschungsideen, wie des Salon Kitty, ein verwanztes Nobelbordell in Berlin, um Belastungsmaterial gegen ausländische Diplomaten zu bekommen. Und seine Untergebenen nannten ihn in einer Mischung aus Furcht und Verehrung die „blonde Bestie“, die keine menschliche Regung kannte und die neben dem spießerhaften Reichsführer-SS wie blanker, geschliffener Stahl wirkte.
Tatsächlich war die Weltanschauung des Nationalsozialismus in seiner Gestalt lebendig geworden. In keiner zweiten Figur sah sich das Dritte Reich und sah sich der Typus des neuen Menschen, den es hervorbringen wollte, selbst so ins Gesicht, wie in ihm. Sadismus und Servilität, Machthunger und Mordlust, Ver-nichtungseifer und Verschlagenheit, Zynismus und Zerstörungswahn, alles war bei ihm eine organische Verbindung eingegangen. Dabei war er weder ein perverser Psychopath noch ein bornierter Zelot. Er war ein erbarmungsloser Technokrat, der mit seiner kalten Effizienz und grenzenlosen Perfektion alle in Erstaunen versetzte, die ihn von früher kannten.
Aufgewachsen war der 1904 in Halle an der Saale geborene Bürgersohn in einer kunstsinnigen Familie. Seine Mutter, Elisabeth Krantz, die Tochter des Leiters des Königlichen Konservatoriums in Dresden, war eine bekannte Pianistin. Der Vater Bruno war ein gefeierter Opernstar. Er hatte als Heldentenor in Brüssel, Wien und Prag in Wagneropern brilliert und 1899 in Halle ein renommiertes Musikkonservatorium gegründet. Seinem Sohn bildete er zum Klavier- und Violinvirtuosen aus, nachdem der väterliche Traum, aus ihm einen Operntenor zu machen, an der näselnden Fistelstimme des Knaben zerschellt war. Der brennende Ehrgeiz, der den Jungen seither erfüllte, fand sein Ventil alsbald im Sport. Welche Tätigkeit er in der Schule, in der Freizeit oder beim Militär auch begann, überall brachte er es zur Exzellenz und stach alle Rivalen aus: beim Schwimmen, beim Fechten, als Reiter, Segler, Pistolenschütze und Pilot.
Zum eigentlichen Antriebsmotor seiner Tätigkeit als Exekutor von Terror und Tod wurde jedoch ein Makel, der durch keinen Ehrgeiz, durch keinen Eifer zu tilgen war. Es waren die grassierenden Gerüchte über seinen angeblichen jüdischen Abstammungshintergrund. Öffentliche Anschuldigungen wegen der Lückenhaftigkeit seiner arischen Ahnenlinie auf mütterlicher Seite konnte er zwar unterdrücken. Aber das nie verstummende Gemunkel wirkte auf ihn selbst zurück. Es machte ihn zum reibungslos funktionierenden Rädchen im System, es hielt ihn im Zustand der Todsünde fest, aus dem es kein Entrinnen gab, und es löste einen traumatisch fixierten Vergeltungswahn aus, der weder Gnade noch eine Reflexion über das eigene Tun zuließ.
Das alles wurde freilich zugedeckt durch sein spektakuläres Ende im Frühjahr 1942. Im September zuvor hatte er als frisch ernannter Stellvertreter im Reichsprotektorat Böhmen und Mähren das prächtige Landgut Jungfern Breschan bezogen, das vormals dem jüdischen Zuckerfabrikanten Ferdinand Bloch-Bauer gehört hatte. Auch der Dümmste, so sein Vorsatz, sollte nun begreifen, wie umfassend seine Gewalt in seinem Herrschaftsbereich war. Deshalb eilte er schnurstracks in die Krönungskammer des Veitsdomes und setzte sich dort die wie eine Reliquie gehütete Wenzelskrone aufs Haupt. Davor hatte sich selbst Kaiser Franz Joseph immer gehütet. Denn die Krone birgt einen Stachel aus dem Dornenkranz von Christus und ist mit einem uralten Fluch belegt. Wer sie widerrechtlich aufsetzt, so lautet dieser, der wird binnen Jahresfrist eines gewaltsamen Todes sterben und nach ihm ein Jahr später sein ältester Sohn.
Das Jahr war noch nicht abgelaufen, als sich der Fluch erfüllte. Wie jeden Tag ließ er sich, ohne Begleitschutz und meist im offenen Wagen, auch an jenem 27. Mai von seinem Schloß zum Dienstsitz fahren. Diesmal aber warteten in einer engen Haarnadelkurve in einem Vorort Prags im Rahmen der „Operation Anthropoid“ zwei Attentäter auf ihn, deren Handgranate ihn schwer verletzte. Acht Tage später erlag der 38jährige seinen Verwundungen im Krankenhaus. Auch der zweite Teil des Fluches erfüllte sich. Im Jahr darauf kam sein zehnjähriger Sohn zu Tode. Er wurde auf dem Fahrrad sitzend von einem tschechischen Lastwagen überrollt.
Prof. Dr. Rainer F. Schmidt lehrte Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte am Institut für Geschichte der Universität Würzburg.