© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/24 / 05. Januar 2024

Warum die Ukraine den Krieg gegen Rußland gewinnen wird
Sich der Mission stellen
Ulrich Clauß

Kein Krieg ist alternativlos. Diese Einschätzung legt uns die kontrafaktische Geschichtswissenschaft nahe. Sie versucht, alternative Geschichtsverläufe zu erforschen, indem sie fragt, was geschehen wäre, wenn bestimmte Ereignisse anders verlaufen wären. Historiker dieser Wissenschaft suchen Antworten auf die Frage, wie zum Beispiel ein Waffengang anders oder gar nicht hätte verlaufen können, wenn dies oder jenes getan, gesagt oder unterlassen worden wäre. Dieser Zweig der Geschichtswissenschaft ist zwar im Mainstream seiner Vertreter umstritten. Aber wenn wir alternative Möglichkeiten in Betracht ziehen, können wir manchmal die Auswirkungen bestimmter Entscheidungen oder Ereignisse besser verstehen und mitunter sogar Rückschlüsse auf die heutige Welt ziehen.

„Insofern ist das Mögliche immer ein Begleiter des Tatsächlichen“, formulierte kürzlich der Schweizer Historiker Lucas Burkart, ein engagierter Vertreter dieser Disziplin. „Sie desorientiert, um zu orientieren,“ so Burkart. Um aber nicht die Orientierung zu verlieren, ist es unabdingbar, immer strikt zwischen dem Möglichem und dem Tatsächlichen zu unterscheiden.

Im Fall des russischen Überfalls auf die Ukraine fällt diese Unterscheidung nicht nur Historikern schwer. Mehr noch: Schon bei der Bestimmung des Tatsächlichen, etwa bei der Frage, wann dieser Konflikt eigentlich begonnen hat, scheiden sich die Geister. Die einen datieren den Beginn auf den 24. Februar 2022, als die russische Führung einen Generalangriff Hunderttausender ihrer Soldaten auf die Ukraine befahl. 

Für andere ist der 18. März 2014, also die russische Annexion der Krim durch Rußland, das entscheidende Datum. Für wieder andere begann der Konflikt im Jahr 1999 mit der Osterweiterung der Nato. Und dann gibt es noch diejenigen, die den eigentlichen Ursprung des Konflikts im aufkommenden russischen Imperialismus des 16. Jahrhunderts verorten. In den Raubzügen der Moskowiter, denen im Laufe der Jahrhunderte unter wechselnden Flaggen und Herrschaftssystemen die Unterwerfung Dutzender Völker im Zuge der Eroberung der größten zusammenhängenden Landmasse der Erde folgte.

Die Vertreter der letztgenannten Auffassung haben wohl die plausibelsten Argumente für ihren Standpunkt – und können sich nicht zuletzt auf einen gewichtigen Zeitzeugen berufen. Denn der Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, sieht sich als Feldherr in der zaristischen Tradition einer russischen Großmachtsaga. Zahlreiche seiner Reden und Schriften belegen dies. Wie anders ist es beispielsweise zu verstehen, wenn Putin anläßlich des 350. Geburtstag Peters des Großen, der sich als erster Zar den Titel „Imperator“ zulegte, an dessen territoriale Expansionsbestrebungen erinnert? 

In diesem Zusammenhang – es war im Juni 2022, keine vier Monate nach Beginn seines jüngsten Ukraine-Feldzuges – bezog sich Putin explizit auf den Großen Nordischen Krieg (1700–1721) des „Imperators“. Damals sei es um die Vorherrschaft im Ostseeraum gegangen. „Offenbar ist es auch unser Los: Zurückzuholen und zu stärken“, betonte Putin die Parallele zu seinem Feldzug gegen die Ukraine. Was Putin mit „zurückholen“ meint, wurde bereits 2005 deutlich, als er den Zusammenbruch der Sowjetunion als „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet hatte. Dabei bezog er sich ausdrücklich auf die vielen Russen, die sich nach der Wiedererlangung der staatlichen Souveränität ehemaliger Satellitenstaaten im Ausland aufhielten.

Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Auffassungen über die tatsächlichen Hintergründe des russischen Angriffskrieges ist ein Streit um die Möglichkeiten seiner Eindämmung entbrannt. Angesichts der sich abzeichnenden militärischen Pattsituation auf dem blutdurchtränkten Boden zwischen Lemberg und Luhansk werden in einer Art kontrafaktischen Zeitgeschichte verschiedene Vertrags- und Friedensoptionen durchgespielt. Für den Fachfremden mag es mitunter überraschend sein, daß sich auch Mainstream-Historiker dabei aus dem Methodenfundus der kontrafaktischen Geschichtswissenschaft bedienen. Ein Arsenal, das sie sonst für das Rüstzeug einer bestenfalls randständigen Hilfswissenschaft halten. Und das zudem nie für die Entwicklung utopischer Szenarien geschmiedet wurde.

Der seltsam anmutende Umgang mit diesem Instrumentarium hat weit in den politischen Raum ausgestrahlt und dort für Desorientierung gesorgt. Wo es keine Verständigung über gesicherte Fakten als Voraussetzung gibt, müssen die darauf aufbauenden Szenarien auf das Wildeste ins Kraut schießen. So widersprüchlich die faktischen Befunde über die Ursachen des Ukraine-Konflikts in der Vergangenheit sind, so unterschiedlich sind die Phantasien über eine mögliche Eindämmung des Konflikts in der Zukunft – bis hin zu den kühnsten Legendenbildungen.

So grassiert die Spekulation, der Konflikt in der Ukraine könne nach dem Schema „Land gegen Frieden“ beendet werden, spätestens dann, wenn einer oder beide der Kontrahenten „ausgeblutet“ seien. Dabei wird gerne auf Erinnerungen an den russischen Imperialismus zu Sowjetzeiten zurückgegriffen. Schließlich sei „der Russe“ doch noch immer vertragstreu gewesen, solange ihm niemand sein Imperium streitig gemacht habe. Vertreter dieser Doktrin datieren den Beginn des Ukraine-Konflikts zumeist auf die Phase der Nato-Osterweiterung. Damit sei in die „Interessensphäre“ des Imperiums eingegriffen worden. Daß die Russische Föderation damals schon kein saturiertes Imperium mehr war wie zu Zeiten der roten Zaren, sondern ein unkontrolliert kollabierendes Rumpfgebilde, bleibt dabei unberücksichtigt. Ganz zu schweigen davon, daß die Nato-Osterweiterung in jedem Einzelfall die Entscheidung eines souveränen Staatsvolkes war.

Ebenso kontrafaktisch erscheint die Unterstellung, daß der Imperator überhaupt vertragsfähig sei. Schließlich hat Putin im Zuge seiner jüngsten Feldzüge sämtliche Verträge gebrochen, die der Kreml in den letzten dreißig Jahren abgeschlossen hat. Etwa das „Budapester Memorandum“, das der Ukraine 1994 Gewaltverzicht und staatliche Souveränität im Gegenzug zur Abgabe ihres Atomwaffenarsenals zusicherte – um nur einen der wichtigsten Vertragsbrüche zu nennen. Es liegt auch in der Logik des bisherigen Vorgehens Putins, nach einem wie auch immer gearteten Waffenstillstandsabkommen mit der Ukraine „unterdrückten Russen“ in Georgien, Moldawien oder im Baltikum mit den dann freiwerdenden militärischen Ressourcen militärisch zu „helfen“. An sorgfältig vorbereiteten „frozen conflicts“ an der Peripherie Rußlands, die jederzeit aufgetaut werden können, mangelt es dem Imperator nicht. Und mit Blick auf das Baltikum hat Putin auf seiner Jahrespressekonferenz Mitte Dezember bereits entsprechende Andeutungen gemacht. 

Wie wir Deutschen aus eigener Erfahrung wissen, gehört zu den Unarten diktatorischer Regime, nicht das zu tun, was vertraglich vereinbart wurde. Sondern so zu handeln, wie man es in Reden an das Volk verkündet, oder über Propagandakanäle verkünden läßt. Spätestens dann, wenn die eigene Machtbasis im Lande bedroht ist. So sind fast tägliche Drohungen des russischen Imperators bzw. seiner Propagandisten über die einschlägigen Medien zu hören, europäische Hauptstädte mit Atomwaffen anzugreifen oder russische Truppen bis an den Rhein zu schicken.

Um so befremdlicher ist es, daß manche deutsche Politiker mit den Absendern solcher Botschaften sympathisieren und ihnen sogar zu Diensten sind. Zum Beispiel als wohlwollende Wahlbeobachter in „befreiten“ Gebieten, wo die Befreiten mit vorgehaltener Waffe an die Wahlurnen geführt werden. Mit viel Sympathie für rigoros gesellschaftsformatierende Intoleranz und völkisch-imperiales Denken wird in diesen Kreisen auf eine „eurasische Zukunft“ spekuliert – unter sträflicher Mißachtung deutscher und europäischer Sicherheitsinteressen. „Ihr seid mir schöne Republikaner“, möchte man denen mit Friedrich August III. von Sachsen zurufen.

Dabei hätte man doch ganz ohne jede spekulative Voraussetzung aus der Geschichte lernen müssen, gerade aus dem Niedergang der europäisch dominierten Kolonialreiche: Bisher ist noch jedes Imperium langfristig am Widerstand der eroberten Völker gescheitert. Aus dem einen oder dem anderen Grund. So manche Schlacht ging verloren, aber am Ende wurde der Krieg gewonnen. Warum sollte das bei einer nach innen und außen gesetzlos agierenden Petro-Kleptokratie unserer Tage anders sein?

Die Entkolonisierung des russischen Restimperiums mag zum guten Ende am Verhandlungstisch besiegelt werden. Aber sie muß, wie zu allen Zeiten, auf dem Schlachtfeld erstritten werden. Im Falle der Ukraine kann die freie Welt helfen, dann geht es schneller. Oder abwartend beiseite stehen, dann dauert es länger. Das wissen Historiker aller Schulen: Der Frieden ist sowenig alternativlos wie der Krieg.






Ulrich Clauß, Jahrgang 1955, arbeitete viele Jahre als Leitartikler und in verschiedenen redaktionellen Funktionen für die Tageszeitung Die Welt. Er lebt als freier Autor und Verlagsberater in Berlin.