Kritik an Buchrücknahme nimmt weiter zu
BERLIN. Die Kritik am Umgang mit dem von der Evangelischen Verlagsanstalt (EVA) in Leipzig zurückgezogenen Buch „Angst, Politik, Zivilcourage. Rückschau auf die Corona-Krise“ nimmt weiter zu. Ende Dezember ist in der Berliner Zeitung ein offener Brief erschienen, der nicht nur das Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik (GEP) und die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland (EKM) als Gesellschafter der EVA kritisiert, sondern auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Verfaßt haben ihn der Professor für Internationale Soziale Arbeit an der Internationalen Hochschule Liebenzell (IHL), Detlef Hiller, und die Journalistin Doris Weilandt. Hiller gehörte bereits zu den Unterzeichnern eines anderen offenen Briefs, in dem das GEP scharf kritisiert worden war (JF 52/23-1/24). In dem nun veröffentlichten Text verweisen er und Weilandt darauf, daß in der 50jährigen Geschichte des GEP noch nie ein bereits verlegtes und verkauftes Buch zurückgezogen und dessen weiterer Verkauf unterbunden worden sei. „Natürlich muß so ein einmaliger Vorgang gut abgesichert werden, denn wer würde hier nicht sofort den Versuch vermuten, Meinungsfreiheit einzuschränken. Und so liegt es nahe, zum ganz großen Besteck zu greifen“ und dem Sammelband vorzuwerfen, demokratiefeindliche, geschichtsrevisionistische, verschwörungsideologische sowie antisemitische Narrative zu bedienen. „Und da die Antisemitismuskeule in diesen Tagen, in denen zur Beschämung Deutschlands wieder johlende Horden antisemitische Parolen auf unseren Straßen brüllen, als vernichtende Anschuldigung zum Schutz der eigenen Diskurshoheit besonders wirksam sein muß, legt Kai Spanke von der FAZ am 1. Dezember 2023 mit einem Kommentar zum inkriminierten Buch genau hier nach.“ Dessen Überschrift „Zutiefst antisemitisch“ sage bereits alles, „denn inhaltlich kommt danach nichts weiter. Spanke macht klar, wer meint, daß dieses Buch einen Platz im Diskurs habe, der muß selbst eine verabscheuungswürdige antisemitische Identität besitzen.“ Spanke hatte sich in seinem Kommentar vor allem auf einen Satz des Luther-Biographen Heimo Schwilk bezogen, der in seinem Beitrag „Angst und Auflage. Deutsche Medien im Panikmodus“ geschrieben hatte, daß „die hochmoralische Bundesrepublik an immer mehr Länder Reparationen für lange zurückliegende Kriegszerstörungen bezahlen“ solle. Schwilk weiter: „Das schlechte Gewissen läßt sich nämlich auch anzapfen. Wie das geht, haben uns die Erben der israelischen Opfer der Olympischen Spiele von München 1972 perfekt vorgeführt. Aber schon stehen andere Länder Schlange.“ Schwilk selbst hat in einer Stellungnahme an das GEP bedauert, wenn seine Ausführungen mißverstanden werden könnten. Er greife in seinem Beitrag „die moralistische Politik in diesem Land an und keine Opfergruppen“. Hiller und Weilandt verweisen auf die Aussage des früheren Bundesgesundheitsministers Jens Spahn (CDU), der während der Corona-Krise erklärt hatte, daß man einander später wahrscheinlich viel verzeihen müsse. Das setze aber voraus, so die Autoren, daß beide Seiten eines Konfliktes auch die Gelegenheit haben, sich zu äußern. „Und ja, solche Äußerungen dürfen im friedlichen Meinungsstreit der Demokratie gerne auch einmal polemisch sein. Denn das, was in Pandemiezeiten unzweifelhaft an Polemik stattfand gegen jeden Bürger, einschließlich ausgewiesener Experten, der es öffentlich wagte, die Sinnhaftigkeit oder auch Verfassungsrechtlichkeit mancher Maßnahmen zu hinterfragen, ganz zu schweigen von der offenen Hetze gegen Impfgegner, das muß in einem demokratischen Diskurs nicht nur rein sachlich, sondern mitunter auch polemisch beantwortet werden.“ Denn die Polemik stelle ein wichtiges Ventil dar, um den aufgestauten Druck, „der durch das Meinungsmonopol der zurückliegenden Coronajahre“ entstanden sei, anzusprechen und aufzuarbeiten. Aber wer das Meinungsmonopol verteidigen wolle, könne „offenbar nur großkalibrig antworten“. Am Ende ihres offenen Briefes betonen Hiller und Weilandt: „Erst stirbt die Meinungsfreiheit und dann die Demokratie.“ (idea/JF)